Ali Ertan Toprak

Reportage: kurdmania.org  –

Am 21. April 2013, fand in Gießen der 5. Bundeskongress der Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD) statt. Motto des Bundeskongresses war: „Die Zeit ist reif für die Anerkennung der kurdischen Identität in Deutschland“.

Der Verein erinnerte mit dem Motto an die bisher fehlende Anerkennung der Kurden als Einwanderer in Deutschland, zugleich aber auch ausdrücklich an die Verbundenheit mit der neuen Heimat. Seit der Gründung hat die KGD durch bedeutende Presseerklärungen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen; zu diesem Anlaß führt Kurdmania ein Interview mit den Bundesvorsitzenden der KGD.

Lieber Herr Toprak, lieber Herr Tanriverdi, seit dem Gründungskongress der Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V., kurz KGD, am 21.04.2013, fragen sich viele: Wer sind diese beiden Herren? Können Sie sich bitte kurz vorstellen?

Toprak: Ich heiße Ali Ertan Toprak, bin in Ankara geboren und kam mit 2-3 Jahren nach Deutschland. Meine Familie kommt aus Kayseri/Sariz, die väterlichen Vorfahren stammen aus Dersim, mütterlicherseits ursprünglich aus Maras und Malatya. Die väterliche Familie spricht Zaza und die meiner Mutter Kurmanci. Aufgewachsen bin ich in Hamburg, Ankara und Recklinghausen.
Ich habe in Recklinghausen Abitur gemacht, in Münster Rechtswissenschaften und in Essen Sozialwissenschaften studiert. Derzeit arbeite ich als Politikberater in Köln. Ich war 6 Jahre Generalsekretär der Alevitischen Gemeinden in Europa. Von 2006-2012 war ich Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und habe bis 2012 die Aleviten beim Integrationsgipfel vertreten. Seit 2011 bin ich von der Bundesregierung als Einzelpersönlichkeit in den Bundesintegrationsbeirat berufen worden, leite dort die AG 1 „Identität und Heimat“. Ich bin Mitglied der Grünen und war 5 Jahre Stadrat in Recklinghausen.

kgdTanriverdi: Ich heiße Mehmet Tanriverdi, bin 50 Jahre alt, verheiratet, Vater von 2 erwachsenen Söhnen. Loran, 22 Jahre alt, studiert Wirtschafts-ingenieurwesen in Paderborn und Miro, 20 Jahre, Jura in Gießen.
In Deutschland lebe ich seit knapp 33 Jahren, habe in Gießen Elektrotechnik und später Jura studiert, bin Inhaber und Geschäftsführer einer Handelsgesellschaft, arbeite und lebe in Gießen. Ich bin Mitbegründer der Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V. und war bis 2002 Vorsitzender. Seit etwa 10 Jahren bin ich Präsident der BAGIV e.V. (Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigranten-verbände in Deutschland), mit Sitz in Bonn. Seit etwa 10 Jahren bin ich im Gießener Stadtparlament aktiv und Vorsitzender des Ausschusses Schule, Bildung, Kultur. Zurzeit bin ich Mitglied des Bundesintegrationsbeirates, leite die Arbeit für „soziale Teilhabe“, bin Initiator für zahlreiche soziale Projekte und als Mitglied sowie ehrenamtlich für einen Dutzend von Vereinen aktiv.

Warum brauchen die Kurden in Deutschland diesen neuen Verein? 


Toprak:
 Leider gibt es in Deutschland bisher keinen politisch unabhängigen und vom Staat als Gesprächspartner anerkannten kurdischen Dachverband, welcher alle Kurden repräsentieren könnte. Die meisten bestehenden kurdischen Vereinigungen in Deutschland sind Exilorganisationen kurdischer politischer Verbände. Das wollen wir ändern, indem wir die KGD hier in Deutschland als einen Verband für die Deutsch-Kurden etablieren wollen, welcher alle politischen, kulturellen und religiösen Richtungen übergreifen soll.

kgdTanriverdi: Die Kurdische Gemeinde Deutschland e.V. ist ein existierender, aber derzeit ruhender Verein. Dieser Verein war und soll weiterhin ein demokratischer, pluralistischer, überparteilicher Verein bleiben. Der Verein will, wie in der Satzung und Selbstdarstellung dargelegt, in erster Linie ein Sprachrohr der in Deutschland lebenden kurdischen Einwanderer sein und möchte einen Beitrag für die Integration dieser Bevölkerungsgruppe leisten. Neben der Interessenvertretung ist die soziale und politische Partizipation der kurdischen Einwanderer in Deutschland eines der Hauptanliegen unseres Verbandes. Der Verein unterstützt eine friedliche, politische Lösung für Kurden in Kurdistan und setzt sich für Partnerschaften mit Kommunen im autonomen Kurdistan (Irakisch-Kurdistan) ein.

Die KGD existierte bereits 1992: Was hat sich geändert, um diesen Neuanfang zu begünstigen?

Toprak: Sowohl die politische Ausgangslage in den Herkunftsgebieten der Kurden, als auch die Situation in Deutschland ist heute eine andere. Die neuen politischen Chancen für die Lösung der „Kurdischen Frage“, wie auch neue Entwicklungen in der Integrationspolitik in Deutschland bieten für einen Neuanfang gute Chancen. Eine neue – in Europa sozialisierte – kurdische Generation ist hier entstanden, die sich mittlerweile hier zuhause fühlt. Diese Generation hat neue, europäisch-westliche Perspektiven. Sie sieht sich immer mehr als Teil der hiesigen Gesellschaft.
Sie will vor allem da Verantwortung übernehmen, wo sie ihren Lebensmittelpunkt hat. Diese neue Generation der europäischen Kurden benötigt eine Stimme, welche sie versteht und repräsentiert. Und genau da kann und wird die KGD eine Lücke schließen. Alle Kurden, die sich von den kurdischen Exilorganisationen oder politischen Parteien der Kurden nicht angesprochen fühlen, werden sich mit der KGD identifizieren können.

Tanriverdi: Wie bereits oben erwähnt, hat dieser Verein seit seiner Gründung bis Anfang 2000 gute Arbeit geleistet. Leider lähmten innere und äußere Faktoren die Arbeit des Vereins so sehr, dass sie nicht fortgesetzt werden konnte. Politische Auseinandersetzungen unter den Kurden in der Diaspora und das Desinteresse des Bundes an ihrer Arbeit als Migrantenorganisation gehörten zu den wichtigsten Gründen, welche die aktive Fortsetzung dieser Arbeit beeinflussten.
Die Rahmenbedingungen haben sich jetzt geändert. Sowohl in den Städten und Kommunen, als auch in den Ländern und im Bund wird die Arbeit der Migrantenorganisationen nicht nur als wertvoll geschätzt, sondern auch unterstützt, wenn auch nur geringfügig.
Die Migrantenorganisationen leisten einen wichtigen Beitrag zur Integration und zum friedlichen Zusammenleben zwischen Einwanderergruppen und der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die dritte und vierte Generation der kurdischen Einwanderer wächst heran, bildet sich, ist selbstbewusst und bereit zur Übernahme von Verantwortung für die Gesamtgesellschaft.
Die kurdischen Einwanderer sind mittlerweile mehrheitlich deutsche Staatsbürger und sehen Deutschland nicht nur als ihren Lebensmittelpunkt, sondern auch als ein Stück Heimat. Alle diese Umstände haben dazu beigetragen die Kurdische Gemeinde zu reaktivieren, umzustrukturieren und für alle diejenigen zu öffnen, die sich für diese Ziele einsetzen. Ich sehe keinen Grund, dass der Verband in absehbarer Zeit nicht die Interessen der Mehrheit der Kurden in Deutschland vertreten könnte.

Während andere Volksgruppen bei Null anfangen können, müssen die Kurden sicherlich bei Minus anfangen: Welche Schwierigkeiten ergeben sich daraus? Welche Ziele und Aufgaben verfolgt die KGD? 

Toprak: Mein Hauptziel ist, die KGD als anerkannten Dachverband und als Stimme der Deutsch-Kurden für Politik und Öffentlichkeit zu etablieren. In der neuen KGD beteiligen sich viele gut ausgebildete und hier sozialisierte junge Menschen, die wissen, wie Politik hier funktioniert. Von daher bin ich optimistisch, dass wir mit diesem politisch-gesellschaftlichem Know-how schnell aufholen können. Die Zeit ist reif für eine kurdische Renaissance in Deutschland und Europa. Wenn die Exilorganisationen das begreifen und dieses Vorhaben unterstützen, werden alle davon profitieren.

Tanriverdi:
 Wir fangen zwar relativ neu an, aber wir fangen nicht beim Nullpunkt an. Erstens sind wir nicht neu in der Vereinslandschaft. Wir haben bereits gut bekannte und aktive Mitgliedsvereine. Die Vorstandsmitglieder unseres Verbandes sind zum Teil erfahrene und regional wie bundesweit geschätzte Persönlichkeiten.
Sowohl der Kollege Toprak, aber auch ich, sind im Bundesintegrationsbeirat und waren bei allen Integrationsgipfeln und in anderen Gremien vertreten. Aus allen diesen Erfahrungen profitiert unser Verband. Wir sind zuversichtlich, dass wir von der Strukturförderung des Bundes ebenfalls profitieren können.
Wie oben zum Teil beschrieben, ist die Vertretung der in Deutschland lebenden knapp 1 Million kurdischen Einwanderer zentrale Aufgabe der KGD. Als Schwerpunkt unserer Aufgaben sehen wir die Anerkennung der kurdischen Community als eigenständige Migrantengruppe, damit ihre Teilhabe in der neuen Heimat gestärkt wird. Hier sehen wir u. a. Kooperation und Zusammenarbeit in Bund, Ländern und Kommunen sowie zivilgesellschaftliches kooperatives Engagement mit weiteren Partnern aus Bildung, Sozialwesen, Gesundheitswesen und Sport, Vernetzung der demokratischen kurdischen Vereine und Verbände, Förderung der Mitgliedsvereine im Bereich der am Gemeinwesen orientierten Projektarbeit, Durchführung von Seminaren und Konferenzen, Leistung von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Kurdinnen und Kurden, ihre Identität und Herkunft. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt liegt in sozialen Maßnahmen, beispielsweise: soziale Betreuung und Integrationsmaßnahmen für kurdische Frauen und Arbeitsmigranten, Förderung der Fürsorge für Kinder und Jugendliche, sowie für politisch, rassisch und religiös Verfolgte.
Ferner setzen wir uns dafür ein, dass muttersprachlicher Unterricht für Kinder kurdischer Herkunft in allen Bundesländern angeboten wird.
Und wir streben auch Partnerschaften im Schul- und Hochschulbereich zwischen Bildungseinrichtungen in Deutschland und Kurdistan an. Auch Städtepartnerschaften wird unser Verband unterstützen und fördern.

Wie wird man sich zu anderen Vereinen verhalten? Wie möchte man die anderen Vereine und kurdischen Gruppen miteinbeziehen? 

Toprak: Alle demokratischen kurdischen Organisationen sind eingeladen sich aktiv zu beteiligen. Die KGD möchte der Dachverband aller kurdischen Organisationen in Deutschland sein. Wir werden hier nur erfolgreich sein, wenn wir alle Kräfte bündeln und mit einer Stimme unsere Interessen gegenüber dem Staat vertreten. Das geht nur mit einer überparteilichen NGO. Wir möchten auf jeden Fall freundschaftliche Beziehungen zu allen demokratischen kurdischen Vereinigungen aufbauen.

Tanriverdi:
 Die meisten kurdischen bzw. prokurdischen Vereine haben eine gute Arbeit in Deutschland geleistet für Kurden und Kurdistan. Oft waren sie Werbeträger für alle kurdischen Belange. Die Kurdische Gemeinde Deutschland soll aufgebaut werden als Dachverband für politisch, kulturell und religiös jeweils unterschiedliche demokratische Vereine und Einzelpersonen kurdischer Herkunft in Deutschland und ist keine Konkurrenz für bereits bestehende Vereine. Wir sind offen für alle und bieten konstruktive Zusammenarbeit an. Wir möchten vor allem auch für die Bundesregierung Ansprechpartner sein für die Belange unserer Landsleute in Deutschland. Was wir im Gegensatz zu den meisten Vereinen nicht machen werden: in Deutschland kurdische Exilpolitik zu betreiben.

Welche Rolle sollen Jugendliche und Studenten spielen? 

Toprak: Keine demokratische Organisation kann ohne Beteiligung der Jugend und der Frauen auf lange Sicht erfolgreich überleben. Daher werden wir von Anfang an einen unserer Schwerpunkte der Jugend widmen müssen. Insbesondere müssen wir die Studenten als eine der Hauptsäulen für die Arbeit die KGD stets miteinbeziehen! Wir brauchen gut ausgebildete Akademiker, um unseren Verband vor allem auch intellektuell zu stärken. Daher sollten wir eine Jugend- wie Studentenvereinigung bald in unsere Arbeit einbeziehen. Wir sollten auch unbedingt zeitnah einen aktiven kurdischen Jugendverband etablieren, der Kurden im deutschen Bundesjugendring vertritt. Mein Appell geht an alle kurdischen Jugendlichen und Studenten in Deutschland: „Bitte engagiert euch in der KGD! Macht die KGD zu Eurer Stimme! Ihr habt endlich einen Verband, der die Jugend ernst nimmt und ihr, also euch, auch Verantwortung übertragen will.“

Tanriverdi:
 Die Rolle der Jugend, und vor allem der studentischen Jugend, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wir möchten die studentische Jugend in unsere Arbeit einbinden bzw. mit ihnen zusammenarbeiten. Die Jugend ist sehr selbstbewusst und offen. Sie zu unterstützen und fördern, sehe ich als eine der wichtigsten Aufgaben. Wir wollen die jungen Leute motivieren sich in der Parteienlandschaft in Deutschland zu engagieren und sie bei der politischen Teilhabe unterstützen. Ich kann mir gemeinsame Projekte mit Jugendverbänden vorstellen. Konkret denke ich an Durchführung von Seminaren und Konferenzen, gemeinsame Publikationsprojekte, Aktivitäten in Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, sowie im Bereich Forschung und Wissenschaft.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für die Zukunft.