VON JÜRGEN RAHMIG

MÜNCHEN/ REUTLINGEN. Kurdische Kämpfer haben die Stadt Kobane aus den Händen der Terrormiliz IS befreit. Doch die Stadt ist weitgehend zerstört, wie Medico-Mitarbeiter Martin Glasenapp schildert. Der Vizechef der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Mehmet Tanriverdi, fordert ein Wiederaufbauprogramm für Kurdistan. Noch fehlt auch ein Plan dafür, wie es nach einem Sieg über die Islamisten weitergehen soll. Werden die Grenzen neu gezogen?

Begrüßung für den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan in München. Links Mehmet Tanriverdi, Vizevorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. FOTO: Jürgen Rahmig

»Alleine werden die Kurden den Wiederaufbau nicht schaffen«, sagt Katrin Göring-Eckardt. Vordringlich sei derzeit noch mehr logistische und finanzielle Unterstützung für die UN-Flüchtlingshilfe in der Region, erklärt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. »Darüber hinaus wird Deutschland noch mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen. Der nächste Schritt wäre, wenn man eine befriedete Region hat, die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat und den Wiederaufbau zu unterstützen.«Die Hilfsorganisation Medico International (siehe Interview unten) berichtet von großen Schwierigkeiten, Hilfslieferungen über die türkische Grenze nach Kobane zu bringen. Die Türkei zeigt wenig Interesse daran, die Kurden an der türkisch-syrischen Grenze im Überlebenskampf gegen die Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates zu unterstützen. Monatelang schaute die Regierung Erdogan zu, wie die Milizen die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobane einzunehmen versuchte und zerstörte.Vertreter der Kurdischen Gemeinde in Deutschland empören sich über die Tatenlosigkeit. Auf einer Kundgebung am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz wiesen sie darauf hin, dass die Grenze zu Kobane im Prinzip geschlossen sei, während das nur wenige Kilometer entfernt in Richtung IS-besetzten Gebietes auf der syrischen Seite nicht der Fall sei. Die meisten ausländischen IS-Kämpfer, auch die aus Deutschland, seien über die Türkei eingereist.

»Einer der Abnehmer ist die Türkei«

Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Mehmet Tanriverdi, fordert im Gespräch mit dem GEA mehr Druck der Weltgemeinschaft auf die Türkei, damit sie die Grenze nach Kobane öffnet und die Unterstützung der Terrormilizen beendet. Ein anderes Problem seien die Geldquellen, über die sich IS finanziere, mit denen sie Waffen kaufen und die Söldner bezahlen könne. Hauptgeldquelle sei das Öl aus den eroberten Ölfeldern. »Einer der Abnehmer ist die Türkei«, klagt Tanriverdi an.

Die einzige wirklich schlagkräftige Kraft im Kampf gegen IS mit Bodentruppen sind derzeit die Kurden aus der nordirakischen Autonomen Region Kurdistan, sowie syrische und türkische kurdische Kämpfer. Sie hätten inzwischen fast die gesamten südkurdischen Territorien zurückerobert. Die Autonome Region Kurdistan (ARK) führt den Bodenkampf gegen IS, hat in dem kleinen Land rund zwei Millionen Flüchtlinge zu versorgen bei einer eigenen Bevölkerung von knapp über fünf Millionen, und befreit – wie das Beispiel Kobane zeigt – weitgehend zerstörte Städte und Dörfer, deren Aufbau die finanziellen Kräfte völlig überfordert. Tanriverdi vermisst einen Plan der internationalen Gemeinschaft, wie es nach einem Sieg gegen die IS weitergehen soll. »Was wir brauchen, ist eine Art Geberkonferenz.« Wie werden künftige Grenzen aussehen? Was wird aus der multikulturellen Millionenstadt Mossul, die sich derzeit noch in Händen der IS befindet, deren Befreiung aber schon seit Monaten durch entsprechende militärische Operationen vorbereitet wird.

Tanriverdi fordert, »den Nahen Osten neu zu denken« und spricht von einem »Zukunftsmodell Kurdistan« auch bei der Integration von Minderheiten und Religionsgemeinschaften. Die ARK sei beispielgebend. Nicht von ungefähr hätten auch Hunderttausende verfolgter arabischer Christen und Kurden jesidischen Glaubens dort Zuflucht und Schutz gesucht und gefunden.

Eindringlich warnte er Deutschland vor zurückkehrenden Dschihadisten. Sie seien eine große Gefahr für die innere Sicherheit. Das sehen Geheimdienst- und Sicherheitskreise ähnlich. Nicht erst seit dem Anschlag auf »Charlie Hebdo« in Paris wird die Gefahr für Europa insgesamt als hoch eingeschätzt.

Eine schlechte Figur machte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Er hatte unmittelbar vor der Konferenz in München erklärt, nicht zu kommen, nachdem zur Gesprächsrunde über den Mittleren Osten auch ein israelischer Politiker eingeladen worden war. Ob die Anwesenheit des Vorsitzenden der israelischen Arbeiterpartei, Isaac Herzog, der einzige Grund war? Oder wollte er eventuell unangenehmen Fragen von Masoud Barzanis entgehen, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan?

Barzani sprach in München mit Vertretern der USA, Deutschlands, mit dem irakischen Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi und EU-Vertretern. Die Iraker forderte er auf zum gemeinsamen Kampf gegen die Terrormilizen. Nur so könne die Rückeroberung sämtlicher Gebiete von IS gelingen.

»Sehr wichtig ist auch die deutsche Ausbildungsmission«

Großes Lob fand die Entscheidung der Bundesregierung aus dem vergangenen Jahr, die Kurden mit Waffen zu unterstützen. Vor allem die Milan-Panzerabwehrwaffe habe entscheidend geholfen, sagte Tanriverdi. »Sehr wichtig ist aber auch die deutsche Ausbildungsmission für die Kurden.«

Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen befürwortet weitere Waffenlieferungen in den Nordirak. Ihrer Überzeugung nach wird sich der Islamische Staat niemals an einen Verhandlungstisch setzen. Es gebe also nur eine militärische Lösung. Deutschland wird den Kurden im Nordirak weitere Waffen im Wert von 13 Millionen Euro geben. Unter anderem sollen die Peschmerga-Kämpfer 30 weitere Panzerabwehrwaffen vom Typ »Milan» mit 500 Raketen sowie 203 Panzerfäuste und mehr als 4 000 Sturmgewehre erhalten. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte eine Lieferliste, auf der auch 6,5 Millionen Schuss Munition, 10 000 Handgranaten, zehn gepanzerte Fahrzeuge vom Typ »Dingo» und zehn Sanitätsfahrzeuge »Unimog» stehen.

Hinzu kommen Bekleidung, Sanitätsmaterial und Ersatzteile. Außerdem hatte der Bundestag beschlossen, bis zu 100 deutsche Militärausbilder in den Nordirak zu schicken. Ein Teil der Ausbilder befindet sich bereits dort.

Selbst Grünhelme-Gründer Rupert Neudeck, der sich im Sindschar-Gebirge aufgehalten hat, spricht sich für die weitere Lieferung von deutschen Waffen an die Kurden aus. Der 75-jährige Cap Anamur-Gründer sagt, Deutschland könne nicht zusehen und auf ein Mandat der Vereinten Nationen oder der Nato warten. Neudeck äußerte sich in verschiedenen Medien daher lobend über die derzeitige deutsche Politik und sprach vom hohen Ansehen, das die Deutschen bei den Kurden genießen. (GEA)


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