Dom Radio
Kurdischer Generalsekretär zum Demo-Sonntag in Köln
“Köln darf kein Schauplatz von Straßenschlachten sein”
Der Demo-Sonntag in Köln wird ohne die Kurdische Gemeinde Deutschlands statfinden. Ihr Generalsekretär, Cahit Başar, sieht die Integration im Land gefährdet.
domradio.de: Eigentlich müsste man doch gegen so etwas auf die Straße gehen, oder?
Cahit Başar (Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde in Deutschland): Da haben Sie völlig Recht. Wer die Kurden kennt und ihre Situation verfolgt, der weiß, dass die Kurden durchaus ein demonstrationsfreudiges Völkchen sind und auch für ihre Rechte auf die Straße gehen. Was wir jetzt aber feststellen, ist, dass wir eine unglaublich aggressive und aufgeladene Stimmung in der türkischen Community haben und dass auch von den Erdoğan-Anhängern eine große, bisher nicht bekannte Aggression hervorgeht gegenüber politischen und ethnischen Gegnern. Wir möchten vermeiden, dass möglicherweise Köln zum Schauplatz eines Straßenkrieges oder von Straßenschlachten wird, die in dieser hoch emotionalisierten Situation mit offensichtlich ganz viel aufgestauter Wut und vielleicht sogar mit Aggression, die berechtigte Forderung der Kurden nach mehr Demokratie und mehr Freiheit in den Schatten stellen könnten.
domradio.de: Sehen Sie denn diese Gefahr, dass es bei der Demonstration am Sonntag wirklich gewalttätig werden könnte?
Cahit Başar: Wissen Sie, die Polarisierung, die in der Türkei im Moment die Gesellschaft in die Atome zerfallen lässt, überträgt sich nahezu eins zu eins in die verschiedenen Communities in Deutschland. Von Kiel bis zum Bodensee flimmern tagtäglich gleichgeschaltete Medien und Propagandamaterial in die türkischen Wohnzimmer und laden damit die Menschen ordentlich auf. Das, was am Wochenende in Köln oder noch an anderen Orten stattfinden wird, bedeutet letztendlich, dass wir unsere Integrationsbemühungen in diesem Land zu Grabe tragen. Denn Menschen geraten aufeinander, aufgrund von Ereignissen, die 3.000, 4.000 Kilometer von uns entfernt liegen.
domradio.de: Kann man denn in dem Zusammenhang die türkische Gemeinde in Deutschland – also die Türken hierzulande – gleichsetzen mit den Erdoğan-Anhängern, oder ist das noch einmal eine andere, radikalisierte Gruppe, die in Köln am Sonntag auf die Straße geht?
Cahit Başar: Das ist auf jeden Fall eine radikalisierte Gruppe. Ich würde sie auch mit einer großen kurdischen Gegendemonstration nicht aufwerten wollen. Es leben viele friedliche Menschen hier in dieser Gesellschaft und haben ein großes Interesse, dass hier alle friedlich und respektvoll miteinander umgehen und auch gemeinsam zusammen leben können. Deutschland bietet uns allen die Chance dazu, dass wir aufeinander zugehen und vielleicht hier ein Zusammenleben demonstrieren können, wie es in anderen Staaten – in diesem Fall in der Türkei – offensichtlich derzeit nicht möglich ist.
Ich bedaure es wirklich sehr, dass Menschen zu Tausenden vergiftet und angesteckt werden mit den Vorurteilen und dass sie politisch instrumentalisiert werden und nicht wahrnehmen, dass es gerade hier in Deutschland, doch eigentlich möglich sein müsste, friedlich zu sein, dialogbereit aufeinander zuzugehen, gemeinsam auch Unterschiede zu diskutieren und diese Unterschiede vielleicht auch ein Stück weit zu respektieren.
Stattdessen überträgt sich die Aggression, die wir aus den türkischen Medien kennen, diese aggressive Stimmung, hierhin in Form von Drohgebärden, in einer sehr martialischen und verrohten Sprache, in konkreten Bedrohungen gegenüber Erdoğangegnern oder Kritikern, sodass sich Menschen entweder kaum noch auf die Straße trauen, dass sie kaum noch vor die Kamera treten und etwas sagen wollen, weil sie einfach Angst vor Repressalien haben. Wenn nicht in Deutschland, dann zumindest für ihre Familien in der Türkei. Und das kann nicht sein.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Quelle: https://www.domradio.de/themen/ethik-und-moral/2016-07-30/kurdischer-generalsekretaer-zum-demo-sonntag-koeln
Hells Angels und Co.:
“Das Gewaltpotenzial ist da”
Gießen (bf).
Immer öfter sorgen Gruppen wie die Hells Angels, die Osmanen oder jüngst Bahoz für Schlagzeilen. Mal geht es um Auseinandersetzungen untereinander. Mal um Drogengeschäfte. Mehmet Tanriverdi von der Kurdischen Gemeinde warnt vor der Szene und gibt Einblicke.
Sie warnen vor Jugendlichen, die von Gruppen unter falschen Versprechungen in die Kriminalität gelockt werden. Welche Gruppierungen haben Sie im Blick?
Mehmet Tanriverdi: Osmanen Germany, Hells Angels, Bahoz. Die beiden erstgenannten sind im Gießener Raum organisiert und haben in der Vergangenheit immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Zu Hells Angels muss ich nicht viel sagen, die sind bekannt. Bei den Osmanen handelt es sich vor allem um Türken. Bahoz, eine ganz neue Gruppe bei uns, nach eigenen Angaben erst im März gegründet, setzt sich eher aus Kurden zusammen. Osmanen und Bahoz nennen sich nicht Motorradclubs, stattdessen gründen sie überall Boxclubs. Die Polizei ist zum Beispiel immer wieder in der Ederstraße. Dort gibt es einen solchen Boxclub. In der Theorie werden wir eine große Boxnation. In der Praxis geht es um anderes. Verschiedene Ortsgruppen in Deutschland sind in Drogengeschäften, Schutzgelderpressung und im Rotlichtmilieu tätig.
Was verbindet die Gruppen?
Tanriverdi: Alle reden von Werten. Es geht um Respekt, Brüderlichkeit, Freiheit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Den Mitgliedern wird ein Wir-Gefühl geboten, das sie vielleicht anderswo nicht finden. Diese Werte haben die Hells Angels bereits in den 70ern in Deutschland für sich definiert. Die anderen übernehmen sie. Die Osmanen berufen sich zusätzlich auf Tugenden des Osmanischen Reiches. Bei Bahoz kommt Antirassismus und Antifaschismus dazu. Das klingt natürlich gut. Doch sobald Geld und Macht ins Spiel kommen, sind Werte schnell vergessen. Der Großteil der Mitglieder solcher Gruppen ist in Deutschland geboren oder im Kindesalter hierher gekommen. Viele haben als Türsteher in Clubs gearbeitet, waren in Gewalt verwickelt oder sind vorbestraft. Oft haben sie eine Ausbildung abgebrochen und keinen Beruf erlernt. Sich für die genannten Werte einzusetzen, ist gut und richtig, doch der Weg über entsprechende Gruppierungen führt auf die falsche Bahn. Immer öfter zahlen die Jugendlichen mit dem Eintritt einen hohen Preis und enden in Gefängnissen.
Was sagt das LKA? |
Insgesamt sind dem Landeskriminalamt 23 sogenannte »Outlaw Motorcycle Gangs« mit zusammen 450 Mitgliedern in Hessen bekannt. Für Gießen fällt darunter neben den Hells Angels auch der ehemalige Boxclub ›Lions 21‹, eine rockerähnliche Gruppierung, die sich polizeilichen Erkenntnissen zufolge nun an Aktivitäten der Gruppierung Bahoz beteiligt«, wie es beim LKA auf Anfrage der Gießener Allgemeinen Zeitung heißt. Zum Hintergrund der regelmäßigen Polizeipräsenz in der Ederstraße erklärt ein Sprecher: »Aus Gründen der Gefahrenabwehr werden Treffpunkte oder Objekte im Umfeld von Rocker-/rockerähnlichen Gruppierungen beobachtet, aber auch um Informationen über Personen zu erlangen. « Bei Kontrollen in der Szene – nicht explizit in Gießen – wurden auch Verstöße gegen dasWaffengesetz festgestellt. |
Können Sie beziffern, wie viele Gießener in den Gruppen aktiv sind?
Tanriverdi: Nein. Ich denke etwa bei Bahoz, dass es weniger ist als Bilder im Internet vermuten lassen. Verschiedene Ortsgruppen treten gemeinsam auf. Da entstehen erschreckende Bilder mit teilweise rund 100 starken, großen Männern. Aber: Selbst wenn nur 30 Männer in Gießen organisiert sind, sind das 30 zu viel. Bei der Hells-Angels-Gruppe in der Region handelt es sich hauptsächlich um türkischstämmige Männer, deren Zahl mir nicht bekannt ist, die laut Presse mit den Osmanen Germany freundschaftlich verbunden ist. Diese beiden Gruppen sorgen immer wieder für Schlagzeilen, auch im Rhein-Main-Gebiet.
Wie gewinnen die Gruppierungen Mitglieder?
Tanriverdi: Osmanen und Bahoz geben sich als Patrioten aus. Ein Beispiel: Nach dem Putschversuch in der Türkei hatten sich die Osmanen vor dem Türkischen Generalkonsulat in Frankfurt postiert. Um die Einrichtung zu schützen, wie sie es formulieren. Obwohl da in Deutschland natürlich nichts passiert. Das schafft Aufmerksamkeit. Auch im Internet präsentieren sich die Gruppen sehr gekonnt: Die posten martialische Bilder von sich auf Facebook und hetzen gegen Konkurrenten. Aber wir haben Gesetze in Deutschland. Eine Art Paramilitär brauchen wir nicht. Wir können den Frust mancher Jugendlichen verstehen, doch der Eintritt in eine kriminelle Organisation ist nicht der richtige Weg.
Was hat es mit Bahoz konkret auf sich?
Tanriverdi: Es ist eine sehr junge Gruppierung. In Gießen ist sie erst seit wenigen Monaten aktiv. Dahinter steckt bisher weniger Geld als bei den anderen Gruppen, doch offenbar wachsen sie ziemlich schnell. Die Gießener waren zuletzt in Frankfurt und Offenbach unterwegs und haben ihre Macht demonstriert. Das sind jedoch keine politischen Akte, sondern der Versuch, die Konkurrenten einzuschüchtern.
Wie stehen die Gruppen untereinander?
Tanriverdi: Was bekannt ist: Hells Angels und Osmanen haben sich in der Region vor einiger Zeit verbrüdert. Aber: Bündnisse gehen schnell in die Brüche, wenn es um Geld und Macht geht. Bahoz dürfte zustande gekommen sein, weil sich junge Männer in dieser Situation mit Hells Angels und Osmanen unwohl gefühlt haben. Laut Selbstdarstellung hat Bahoz Gießen mit den Hells Angels nichts zu tun. Mit den Osmanen stehen sie aber ganz deutlich in Konkurrenz.
Sie haben Rückmeldungen von Familien bekommen, deren Kinder in diese Gruppierungen reingerutscht sind. Was sagen die Familien?
Tanriverdi: Die Eltern sind überfordert. Ihre Söhne haben die Ausbildung abgebrochen, konsumieren teilweise Drogen, haben kein geregeltes Einkommen. Die Eltern haben die Kontrolle verloren, verstehen nicht, was in den Köpfen ihrer Kinder los ist. Sie haben Angst. Sicherlich ist nicht jeder dieser Männer in den Gruppen kriminell, vielleicht sind sie auch nur naiv, aber die Bedingungen der Mitgliedschaft etwa von Bahoz sprechen eine deutliche Sprache: Da werden Erfahrungen in anderen Clubs abgefragt. Und letztlich ist es auch kein Zufall, dass regelmäßig die Polizei bei den Gruppierungen auftaucht.
Wie kann dem Sog der Gruppen entgegengewirkt werden?
Tanriverdi: Wir brauchen einen Dialog von mir aus in Form eines Runden Tisch aus Behörden, Eltern, Bildungseinrichtungen, Verbänden. Es muss aufgeklärt werden. Ob das bei den Hells Angels noch funktioniert, bezweifle ich, aber die Hintergründe von Bahoz etwa müssen an die Öffentlichkeit. Und: Wir müssen an die Jugendlichen herankommen. Es ist falsch, alles der Polizei zu überlassen, denn wenn sie ins Spiel kommt, ist es meist zu spät. Mittelfristig geht es um Integration: Unsere Kinder müssen beschäftigt werden. Weil es zu wenige Ganztagsschulen gibt, sollten Eltern sie in die Vereine schicken. Sport ist die beste Therapie. Und es geht auch um Bildung: Wer eine gute Perspektive hat, baut in der Regel weniger Unfug.
Welche Auswirkungen hat der Putschversuch in der Türkei auf das Verhältnis der Gruppen?
Tanriverdi: Das ist nicht mit Gewissheit zu sagen. Bei den Osmanen ist durchaus vorstellbar, dass es Verbindungen in die Türkei gibt. Dass es bei Bahoz direkte Verbindungen zu politischen Parteien gibt? Daran glaube ich nicht. Ausschreitungen nach dem Putschversuch gab es in Wien, in Köln, Gelsenkirchen und einigen anderen Städten in Deutschland. Inwiefern die genannten Gruppen involviert waren, kann ich nicht sagen. Klar ist allerdings: Der Putschversuch hat die Stimmung nicht gerade beruhigt. Und das Gewaltpotenzial ist da.
Inwiefern werden die Gruppierungen normalen Bürgern gefährlich?
Tanriverdi: Zum einen schüchtert es die normalen Bürger massiv ein, wenn 50 bis 60 Männer Parolen rufend durch die Straßen marschieren. Entsprechende Boxclubs und Bordelle in Gießen sorgen bei den Nachbarn auch für Sorgen, wenn mehrfach die Polizei vor Ort ist. Zum anderen sind kriminelle Gruppen immer eine Gefahr für die Gesellschaft: Wir haben in Deutschland Gesetze, die gelten für alle und müssen von allen eingehalten werden. Die Entwicklung geht uns alle an.
Interview
Ali Ertan Toprak im Gespräch mit Ute Welty
Der Bundesvorsitzende der kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak, hofft, dass die Türkei neue Friedensgespräche mit der PKK aufnimmt. Auf eine Demonstration gegen den Aufmarsch von Erdogan-Anhängern in Köln werde bewusst verzichtet.
Die Türkei stehe seit dem niedergeschlagenen Putschversuch unter Druck, sagte Toprak im Deutschlandradio Kultur. Die Tourismusbranche sei am Boden, wirtschaftlich gehe es bergab und Präsident Recep Tayip Erdogan werde nach Auswegen aus dieser Lage suchen müssen. Deshalb könne es sein, dass Erdogan nach Auswegen suche und Gespräche mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) neu aufnehme.
Erdogan in der Sackgasse
“Ich hoffe, dass er auch wieder versuchen könnte, mit Kurden Frieden zu schließen”, sagte der Kurden-Vertreter. “Ich bin nicht optimistisch, es ist eher so meine Hoffnung.” Im Moment sei es schwierig, vorauszusehen, in welche Richtung sich die Türkei jetzt bewegen werde. “Natürlich ist Erdogan, auch wenn er den starken Mann nach außen gibt, angeschlagen und hat einen riesigen Ansehensverlust in der internationalen Politik.” Erdogan brauche neue Verbündete und könne sich in dieser Situation keinen neuen Konflikt oder Krieg leisten, zumal er ein Drittel der Armee ausgeschaltet habe.
Kurden setzen auf Deeskalation in Köln
Mit Blick auf die geplante Demonstration von Erdogan-Anhängern in Köln erläuterte Toprak, warum es keine Gegendemonstrationen von Kurden geben werde. “Wir wollen eigentlich zur Deeskalation beitragen”, sagte er. “Der deutschen Öffentlichkeit ist, glaube ich, ganz deutlich, wofür Erdogan-Anhänger morgen demonstrieren, nicht für Demokratie, sondern für einen Autokraten. Das finden wir verwerflich.” Man habe auch vermeiden wollen, dass Kurden in Deutschland durch Provokationen in Mitleidenschaft gezogen und mit Gewalt in Verbindung gebracht würden. Die Stimmung sei sehr aufgeheizt und aggressiv. Er selbst sei aufgrund seiner kritischen Äußerungen bereits von Erdogan-Anhängern bedroht und beleidigt worden. “Eine Hexenjagd findet zur Zeit nicht nur in der Türkei statt, sondern auch hier.” Toprak sagte, er habe Angst um seine Freunde und Verwandten in der Türkei und könne selbst auch derzeit nicht dorthin reisen.
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Kölner Polizei hat vorsichtshalber schon mal die Wasserwerfer bereitgestellt, man bereitet sich an diesem Wochenende auf alles Mögliche vor, für morgen werden nämlich 30.000 Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan erwartet. Kurdische Erdogan-Gegner haben auf eine offizielle Gegendemonstration verzichtet, aber gewaltbereite Hooligans und Autonome könnten die Stimmung zusätzlich anheizen. Ali Ertan Toprak ist Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland und ihn kann ich jetzt nach seinen Einschätzungen vor dieser großen Demonstration fragen. Guten Morgen!
Ali Ertan Toprak: Guten Morgen!
Welty: Warum verzichten Kurden in Deutschland zumindest offiziell auf ihr Demonstrationsrecht, warum gehen sie morgen nicht auch auf die Straße?
Toprak: Wir wollten eigentlich zur Deeskalation beitragen. Der deutschen Öffentlichkeit ist glaube ich auch ganz deutlich, wofür Erdogans Anhänger morgen demonstrieren, nicht für Demokratie, sondern für einen Autokraten. Das finden wir verwerflich, das ist aber auch der deutschen Öffentlichkeit klar. Und wir wollten einfach vermeiden, dass Kurden eventuell bei Ausschreitungen durch Provokation in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, wir wollten nicht, dass Kurden mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Die Kurden leiden schon seit über 20 Jahren wegen den Bildern in den 90er-Jahren darunter und das muss nicht wieder stattfinden.
Welty: Wenn Sie sagen, die Kurden leiden schon seit 20 Jahren, wie erleben Sie dann die Situation der vergangenen zwei Wochen nach dem versuchten Militärputsch?
Toprak: Natürlich, wir sind wie die ganze Weltöffentlichkeit auch in großer Sorge. Aber seit dieser Woche, seit zwei Wochen gibt es einen Ausnahmezustand in der Türkei, aber die Kurden leben schon länger im Ausnahmezustand, die letzten 30, 40 Jahre, Die überwiegende Zeit mussten die Kurden im Ausnahmezustand leben. Insofern ist das für die Kurden leider nichts Neues, jetzt ist auch die Westtürkei davon betroffen. Und wir hoffen dennoch, dass am Ende die Demokratie siegen wird und dass es in der Türkei friedlich bleibt, auch wenn wir momentan wenig Anlass zur Hoffnung haben.
Zielscheibe von Erdogan-Anhängern
Welty: Was erleben Sie persönlich, was bedeutet das für Sie persönlich, der Sie ja an exponierter Position sind?
Toprak: Ja, zunächst einmal natürlich ist die Stimmung sehr angeheizt und aggressiv, und ich persönlich bin auch zur Zielscheibe gemacht worden von Erdogan-Anhängern und auch von Erdogan-Presse, weil ich noch zu den wenigen kritischen Stimmen in der deutschen Öffentlichkeit gehöre, die sich noch trauen, was zu sagen. Also, eine Hexenjagd findet zurzeit nicht nur in der Türkei statt, sondern auch hier. Und ich bin zum Beispiel am Tag des Putsches als PKK-Mann in Erdogan-Zeitungen dargestellt worden und zur Zielscheibe gemacht worden und seitdem werde ich bedroht, beleidigt und ich habe natürlich auch Angst um meine Freunde und Verwandte in der Türkei.
Welty: Reisen Sie zurzeit in die Türkei?
Toprak: Nein, ich kann zurzeit in die Türkei nicht einreisen, weil ich auch schon von Erdogan-Anhängern mehrfach denunziert worden bin, den Sicherheitsbehörden als Erdogan-Kritiker, als Erdogan-Gegner gemeldet worden bin. Und ich kann momentan nicht in die Türkei einreisen.
Welty: Was halten Sie von der Offerte Erdogans, die gestern Abend, heute Morgen bekannt wurde, dass die Verfahren wegen Beleidigung eingestellt werden sollen?
Toprak: Ja, das ist so ein orientalischer Einlullungsversuch, möchte ich das mal so ein bisschen kommentieren, und typisch Erdogan-Taktik. Immer wenn er in Bedrängnis ist, versucht er immer, erst mal einen Schritt vorzugehen und dann zwei Schritte zurückzugehen, um der Weltöffentlichkeit auch den Eindruck zu vermitteln, das, was momentan vermittelt wird, stimme gar nicht, er ist kein Diktator.
Er weiß, dass die ganze Weltöffentlichkeit Erdogan momentan als einen Autokraten sieht und die Türkei auf dem Weg in eine Diktatur, und diesem Negativbild möchte er entkommen, indem er natürlich so taktisch vorgeht und die Weltöffentlichkeit also ein bisschen verwirren möchte und zeigen möchte, nein, so schlimm bin ich doch gar nicht. Aber diese Art von Erdogan’scher Politik kennen wir aus den vergangenen 15, 16 Jahren allzu gut und dem müssen wir nicht zu viel Bedeutung beimessen.
Ansehensverlust für Erdogan
Welty: Angesichts der immensen Umwälzungen in der Türkei steht die kurdische Frage nicht mehr ganz so im Vordergrund, wie das mal der Fall war. Hat das auch den Aspekt einer Chance, dass vielleicht ein bisschen Ruhe in die Sache reinkommt?
Toprak: Es ist schwierig momentan, vorauszusehen, in welche Richtung jetzt die Türkei gehen wird. Natürlich ist Erdogan, auch wenn er den starken Mann jetzt nach außen gibt, angeschlagen und hat einen Riesenansehensverlust in der internationalen Politik. Und er braucht natürlich neue Verbündete und er kann sich eigentlich in dieser Situation, wo er auch ein Drittel der türkischen Armee ausgeschaltet hat, eigentlich nicht wieder einen Konflikt oder einen Krieg … kann er nicht gebrauchen.
Es kann auch sein, dass er aus taktischen Gründen vielleicht wieder versucht, weil er in Bedrängnis ist … Das ist meine Hoffnung, dass vielleicht doch wieder diese Friedensgespräche mit der PKK aufgenommen werden könnten. Weil, die Türkei steht unter Druck, Tourismusbranche ist auf dem Boden, wirtschaftlich geht es bergab und Erdogan wird wieder nach Auswegen suchen müssen. Und ich hoffe, dass er auch wieder versuchen könnte, mit Kurden Frieden zu schließen. Aber ich bin nicht optimistisch, das ist eher so meine Hoffnung als …
Welty: Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch.
Toprak: Ja, genau so will ich das sagen.
Welty: So lässt sich die Einschätzung von Ali Ertan Toprak zusammenfassen, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. Ich danke für dieses Gespräch und wir hoffen natürlich auf einen friedlichen Sonntag auch in Köln, wenn Erdogan-Anhänger zu Tausenden auf die Straße gehen, um für ihre Sache zu demonstrieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur/Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Pro-Erdogan-Kundgebung
Die Kurden teilten am Donnerstag mit, dass sie zum einen die Erdogan-Anhänger nicht aufwerten wollen, zum zweiten befürchte man gewalttätige Auseinandersetzungen. Der Generalsekretär der Gemeinde, Cahit Basar, sagte, eine solche Demonstration schade der Integration in Deutschland. Erwartet würden Tausende von Menschen, von denen viele in dritter oder vierter Generation in Deutschland lebten, die sich nun aber mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan solidarisierten. “Dass nun Tausende von Menschen für eine Diktatur auf die Straße gehen, ist schlichtweg nicht nachvollziehbar”, sagte Basar.
Die Veranstalter der Demonstration rechnen laut Polizei mit 15.000 Teilnehmern. In der Türkei gilt nach dem gescheiterten Putschversuch ein Ausnahmezustand. Nach offiziellen Angaben wurden zudem mehr als 13.000 Menschen festgenommen und Zehntausende Staatsbedienstete suspendiert.