Auf den Spuren der Neandertaler (von links): Mehmet Tanriverdi, Marita Bungarten, Martin Bergmann und Drosia Tanriverdi. Foto: red

Auf den Spuren der Neandertaler (von links): Mehmet Tanriverdi, Marita Bungarten, Martin Bergmann und Drosia Tanriverdi. Foto: red

Von Thorsten Thomas

GIESSEN – Regelmäßig bewegt sich Mehmet Tanriverdi in Krisengebieten im Nahen Osten. Seine jüngste Reise galt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. An der Spitze einer Gießener Delegation weilte der ehemalige Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände sowie Mitbegründer der in Gießen ansässigen Deutsch-Kurdischen Gesellschaft erneut für ein paar Tage in der Region. Im Gespräch mit dem Anzeiger nimmt Tanriverdi, der seit dem vergangenen Jahr unter anderem als Vorsitzender des MTV 1846 Gießen zeichnet, Stellung zur Situation in Kurdistan.

Quelle: Gießener Anzeiger

Welchem Zweck diente die Reise?

Die Reise hatte zum einen den Zweck, den Spuren der Neandertaler nachzugehen, genauer gesagt, die berühmte Shanidar Höhle, die in der autonomen Region Kurdistan (Nordirak) liegt, zu besuchen. Zum anderen hat Prof. Martin Bergmann von der Justus-Liebig-Universität einen wissenschaftlichen Vortrag zum Thema an der Universität Duhok gehalten. Zwischen der Universität Duhok und der Technischen Universität Mittelhessen besteht seit einigen Jahren eine enge Zusammenarbeit im Bereich Medizintechnik. Die ersten zwei kurdischen Doktoranden werden in den nächsten Tagen in Gießen erwartet.

Sie sind nicht das erste Mal in dem Gebiet unterwegs. Wie stellt sich Ihnen die Lage aktuell dar?

Die Lage in der Region ist weiterhin angespannt. Der Krieg gegen den sogenannten IS ist in der entscheidenden Phase. Die autonome Region Südkurdistan hat knapp fünf Millionen Einwohner. Dazu sind in den ersten eineinhalb Jahren etwa 2,5 Millionen Flüchtlinge dazu gekommen. Diese Menschen zu versorgen und unterzubringen, ist eine große Herausforderung. Sowohl in der Hauptstadt Erbil, aber auch in den Städten Duhok und Süleymania sind die meisten dieser Flüchtlinge untergekommen. Obwohl die kurdisch-jesidische Stadt Shengal seit einigen Monaten vom IS befreit ist, sind nicht alle Flüchtlinge aus der Region wieder zurückgekehrt. Entweder sind die Städte und Ortschaften zerstört oder zum Teil vermint, sodass sich die Menschen nicht ohne Weiteres dort hinbegeben können.

Inwieweit spielen wirtschaftliche Aspekte eine Rolle?

Seit Beginn des Krieges ist das Gebiet von einer Wirtschaftskrise betroffen. Viele begonnenen Bauprojekte sind aufgrund fehlenden Geldes gestoppt. Die gesunkenen Ölpreise machen zusätzlich Schwierigkeiten, da Einnahmen fehlen. Des Weiteren hat die autonome Region Kurdistan das Problem, dass sie aus Bagdad kein Geld erhält. Laut Staatsvertrag des föderalen Irak sollen 17 Prozent der Staatseinnahmen in die kurdische Region fließen. Da das Geld nicht reinkommt, versucht die Regierung Südkurdistans das Öl auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, um die Gehälter zu zahlen.

Beschreiben Sie bitte die Situation der Flüchtlinge.

Wie bereits ausgeführt, leben in der Region knapp zwei Millionen Flüchtlinge. Die meisten von ihnen leben in größeren Camps in der Region, aber sehr viele leben auch in den Städten und Dörfern Kurdistans. Sie sind zum Beispiel in Bauruinen untergebracht. Viele Flüchtlinge versuchen, als Straßenhändler den Lebensunterhalt ihrer Familien zu bestreiten. Da aber die Baubranche in der Region zum Erliegen gekommen ist, gibt es für die meisten überhaupt keine Arbeit.

Und dennoch wollen die Menschen wieder zurückkehren?

Die meisten Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben, wollen in ihrer Heimat bleiben beziehungsweise wollen in ihre Städte und Dörfer zurückkehren. Hier braucht die autonome Region Südkurdistan unbedingt humanitäre Unterstützung und Aufbauhilfe für die zerstörten Häuser und Infrastruktur. Ferner brauchen die Kurden die internationale Hilfe bei der Räumung von Kriegsgerät und Minen, damit die Menschen unbeschadet in ihre Häuser zurückkehren und die Landwirtschaft wieder betreiben können.

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70 000 Kämpfer haben die Kurden im Nordirak unter Waffen. Im Kampf gegen den IS gehören sie zu den wichtigsten Verbündetem. Foto: dpa

Der Kampf um Mossul ist in vollem Gang. Es scheint, als würde der IS zurückgedrängt.

Ohne europäische und amerikanische Militärhilfe hätte man den IS nicht zurückdrängen können. In erster Linie waren es Kurdinnen und Kurden sowohl in Syrien, aber auch im Irak, die aktiv gegen den IS den Kampf geführt haben und die Terroristen zurückgedrängt haben. Der IS ist noch nicht besiegt. Seit mehr als einer Woche stehen irakische Streitkräfte vor den Toren Mossuls und haben lediglich zwei Dörfer eingenommen. Die kurdischen Peschmerga haben großes Misstrauen gegenüber den irakischen Streitkräften und halten sich vom Kampf noch relativ fern, da die irakischen Streitkräfte vor zwei Jahren Mossul dem IS kampflos überlassen haben. Die Sicherheit in Kurdistan ist relativ gesichert. Die kurdischen Peschmerga schützen eine Grenze von knapp 1000 Kilometern zum Nachbarn Irak. Überall finden Kontrollen statt. Das Leben in den Städten ist auf den ersten Blick normal.

Was müssten der Westen beziehungsweise die handelnden Akteure für eine Befriedung der Region unternehmen?

Die internationale Gemeinschaft, die Alliierten gegen den IS, müssen schnellstens eine Strategie zur Befriedung der Region entwickeln. Dazu gehört die Unabhängigkeit Kurdistans. Die autonome Region Südkurdistan unter dem Präsidenten Masud Barzani ist faktisch unabhängig. Nach dem Referendum im Oktober geht man davon aus, dass er dem Parlament den Vorschlag unterbreiten wird, die Unabhängigkeit auszurufen. Mittlerweile gibt es neben Israel eine Reihe von Ländern, die bereit sind, die Unabhängigkeit Kurdistans anzuerkennen. Im Norden Syriens haben Kurden ebenfalls einen Kampf gegen den Islamischen Staat geführt und sich autonom erklärt. Langfristig könnte dieses Gebiet sich Südkurdistan anschließen. Es müssen sowohl Schiiten, aber auch Sunniten des Iraks lang- oder kurzfristig befriedigt werden. Ich könnte mir vorstellen, dass die Sunniten des Iraks sowie Sunniten Syriens sich mit Jordanien vereinigen und Schiiten, die von Iran mehr oder weniger beeinflusst werden, einen eigenen Staat im Restirak behalten.

Die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind an sich doch gegeben?

Das stimmt. Die Region ist reich an Bodenschätzen, Öl und Gas gibt es noch die nächsten 50 Jahre ausreichend. Es könnte zur Entwicklung des Wohlstands der Menschen beitragen. Die Kurden können in der Region aufgrund ihrer pluralistischen Haltung neben Israel für eine gewisse Stabilität sorgen und sind ein wichtiger Faktor, den Deutschland und der Westen insgesamt unterstützen sollte.


  • KURDISTAN
    Die Kurden sind das größte Volk der Welt ohne einen eigenen Staat. Verteilt auf vier Länder – Syrien, Irak, Iran und die Türkei – kämpfen sie seit Jahrzehnten um Eigenständigkeit und Anerkennung. Spricht man von Kurdistan, sind die kurdischen Siedlungsgebiete in diesen vier Ländern gemeint. Doch von einem gemeinsamen Kurdistan ist nirgendwo die Rede. Jahrzehntelang wurden die Kurden zum Spielball der Mächte, stets wurde ihr Kampf um mehr Rechte brutal unterdrückt. Inzwischen hat sich die Lage in der Region zugunsten der Kurden verändert. Im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ sind sie zu einem unverzichtbaren Akteur im Nahen Osten geworden. Für ihre Haltung gegenüber den Islamisten wird den Kurden international großer Respekt gezollt, und seit dem Beginn der Bürgerkriege im Irak und in Syrien können sie zum ersten Mal ernsthaft auf ihre Anerkennung als Volk und vielleicht sogar auf einen eigenen Staat hoffen.