„Wir bestehen nicht auf einen eigenen Staat. Aber wir fordern gleiche Rechte.“
Eine Erfahrungsbericht von Dr. Gisela Penteker und Uta Freyer
Die Ärztin Dr. Gisela Penteker war mit einer Delegationsreise von Ärzt*innen und anderen Friedensaktivist*innen zu Newroz im kurdischen Teil der Türkei unterwegs, um die Menschenrechtslage zu begutachten.
Am 14. und 15. März 2018 fahren wir mit einem gemieteten Minibus an die syrische Grenze. Dieser Tag ist sicher der kritischste Teil unserer Reise. Unser Sprachmittler aus Deutschland hat es hier nicht leicht, Gesprächspartner*innen zu finden: Treffen mit uns sind mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden. So sind es denn wieder die kurdischen Parteien HDP/DBP, die sich bereit finden, mit uns zu sprechen. In Mardin fahren wir am fahnenbehangenen Rathaus vorbei, in dem jetzt der Zwangsverwalter der türkischen Regierung residiert. In einer Seitenstraße liegt das Parteibüro der HDP/DBP. Kaum sind wir dort angekommen, eröffnet ein Aktivist das Gespräch: „Ihr seid aus Deutschland gekommen – was soll aus dem kurdischen Volk werden? Erst Kobane, jetzt Afrin. Wir haben uns auf Europa verlassen, aber wir sind im Stich gelassen worden.“
Wir versuchen zu erklären, dass wir unter anderem hier sind, um zu zeigen, dass nicht ganz Europa wegsieht.
Im Gespräch mit dem Vorsitzenden Seymus der DBP, einem Araber, und der Vorsitzenden der HDP, Eylemhier, wird wieder deutlich, dass die Lage hier noch angespannter ist als in Diyarbakir, der „heimlichen Hauptstadt der Kurden in der Türkei“. Demonstrationen, Fahnen hissen, Flyer verteilen, Luftballon s mit politischen Sprüchen oder Zeichen, all das ist in Mardin verboten. Immerw ieder werden Aktivist*innen zu ihrer Arbeit polizeilich verhört. „Es wird uns sehr schwer gemacht. Menschen werden schon wegen einer SMS verhaftet“. Wir treffen die beiden kurz vor einer geplanten Aktion auf dem Markt von Mardin. Sie haben ein Fest beantragt, möchten Flyer für Newroz verteilen und mit der Bevölkerung sprechen.
Das Fest ist noch nicht genehmigt, bisher wurde jeder Antrag abgelehnt. Aber sie beantragen unermüdlich weiter und geben die Hoffnung auf ein großes Newroz-Fest in Mardin, aber auch in Nusaybin, einem kleinen kurdischen Städtchen, direkt an der syrischen Grenze gelegen, nicht auf. Ein Fest am 8. März zum Weltfrauentag wurde verboten – aber das hat die kurdischen Frauen nicht daran gehindert, sich trotzdem öffentlich zu versammeln. Von Beobachtung und Behinderungen durch die Polizei haben die Frauen sich nicht abschrecken lassen.
Zu der beinahe unmöglich gemachten politischen Arbeit kommt hier große wirtschaftliche Not. In dieser sowieso schon sehr armen Provinz nahe der syrischen Grenze leben kaum kurdische Binnenvertriebene, aber an die 200.000 Geflüchtete aus Syrien. Um syrische Stimmen für die AKP zu gewinnen, würde diesen Vorrang zu Arbeitsplätzen gegeben und jetzt auch in Schnellverfahren die türkische Staatsangehörigkeit zugeteilt. Kurd*innen hingegen bekämen bei der Arbeitsvermittlung häufig einen Mitgliedsantrag für die AKP vorgelegt. Unterschreiben oder arbeitslos bleiben, sei die Wahl.
Wie schafft ihr es, weiter zu machen? fragen wir. Die Motivation kommt aus dem Volk, lautet die Antwort. Die HDP ist eine Bewegung, einzelne Funktionsträger*innen sind austauschbar, die Ideale und Prinzipien leben weiter. Die AKP hingegen sei nur funktionsfähig, solange sie genügend finanzielle Mittel habe. „Sie kaufen ihre Kraft“. Wären die fünf zentralen Führungsfiguren nicht mehr da, zerfalle auch die AKP.
Den Weg nach Nusaybin fahren wir entlang der Grenze zu Syrien, die hier parallel zur Bagdadbahn verläuft. Die zwei Meter hohe Betonmauer entlang der Grenze ist durchgängig fertig gestellt. Davor verläuft ein breiter verminter Streifen Brachland und alle paar hundert Meter ein Wachturm oder ein aufgeschütteter Hügel, auf dem Panzer in Stellung gehen können. Auch hier in Nusaybin residiert ein türkischer Zwangsverwalter im verbarrikadierten Rathaus.
Vor dem HDP-Büro steht ein Zivilpolizist, der uns alle mit seinem Handy gewissenhaft und gründlich fotografiert. Trotzdem können wir ungehindert in das Haus treten.
Unser Besuchstag ist der zweite Jahrestag des Beginns der letzten Ausgangssperren. Es ist deutlich zu spüren, wie präsent die Geschehnisse hier noch immer sind. In der Eingangstür des HDP-Büros sind Einschusslöcher zu sehen. Zu Beginn unseres Gespräches erinnert der Vorsitzende daran, dass während der viermonatigen Ausgangssperre im Jahre 2016 hundert Zivilist*innen, vor allem Kinder und alte Menschen, durch Scharfschützen ermordet und mindestens 150 Menschen verletzt wurden. 50% der Stadt wurde bei den Angriffen komplett zerstört, 15.000 Menschen vertrieben. Bis heute seien die meisten Menschen nicht zurückgekehrt, weil sie hier kein zu Hause mehr haben. Dabei ist der Wiederaufbau in vollem Gange. 9.400 Wohneinheiten wurden zerstört, 9.800 werden jetzt neu gebaut, so wird uns berichtet. Allerdings gehören diese neuen Häuser TOKI, der staatlichen Baufirma. Die ursprünglichen Besitzer der Häuser sollen unterschreiben, dass die PKK für die Zerstörung verantwortlich sei. Im Gegenzug bietet der Staat zeitlich begrenzte Mieterleichterung an. Mindestens die Hälfte der Menschen weigere sich aber zu unterschreiben. Damit haben sie jeglichen Anspruch verloren. Die Mieten für die neugebauten Wohnungen sind für die meisten Menschen von hier unerschwinglich.
Die Befürchtung ist, dass die Regierung das sehr wohl einkalkuliert und hier in dieser bisher homogen kurdischen Gegend (99 % Kurd*innen) syrische und arabische Geflüchtete ansiedeln will, um die Hoheit über das Gebiet und die Politik zu erlangen. Auch in diesem Gespräch hören wir Beispiele von Verfolgung von politischer Arbeit, aktuell insbesondere Äußerungen gegen den Krieg in Afrin. Der Vorsitzende der HDP in Nusaybin ist für eine ablehnende Äußerung zu Beginn des Krieges für zwei Wochen in Untersuchungshaft genommen worden. Die Situation insgesamt sei jetzt nur wenig besser als zur Zeit der Ausgangssperre, wird uns gesagt. In der Kurd*innenfrage seien die Kurd*innen auf sich allein gestellt, die türkischen Linken und Sozialdemokrat*innen seien in diesem Bezug keine Opposition zur faschistischen Regierung. Die kurdischen jungen Männer müssen türkischen Militärdienst leisten – und damit auch gegebenenfalls in Afrin oder an anderen Orten gegen Kurd*innen in den Krieg ziehen. Der einzige Ausweg dafür sei die Flucht nach Europa – oder der Weg in die Berge.
Der Grenzübergang nach Qamishlo, die syrische Nachbarstadt auf der anderen Seite der Grenze, ist geschlossen. Es gibt keine Kontakte mehr in die Nachbarstadt. Somit können keine Hilfslieferungen mehr geschickt werden, Familienangehörige können sich nicht mehr treffen.
Wieder wird ein direkter Appell an uns gerichtet: Afrin sei nur der Beginn eines viel größeren Konfliktes. Erdogan sei ein Despot, der die USA und die NATO austesten würde. Eure Regierung muss jetzt reagieren!
Abschließend betont der Vorsitzender HDP noch: Wir bestehen nicht auf einem eigenen Staat. Wir können als Kurd*innen mit den Türk*innen leben. Aber wir fordern gleiche Rechte für uns!
Im Anschluss an das Gespräch hatten wir einen Rundgang mit einer Aktivistin durch die vom Krieg zerstörten Gebiete Nusaybins geplant. Eine polizeiliche Eskorte wartet aber bereits vor der Tür. Unser Fahrer wurde zu unseren weiteren Anlaufpunkten befragt und rät uns, jetzt nur noch die Kirche‚ Mor Yakub und die Ausgrabung der ältesten Universität der Welt als touristisches Ziel zu besuchen. Auch hierhin werden wir von der Polizei begleitet, nach ihren Aussagen zu unserem eigenen Schutz.
Bei unserer Abfahrt am Ortsausgang werden wieder mal unsere Pässe kontrolliert. Ohne weitere Schwierigkeiten fahren wir daraufhin zurück ins Landesinnere nach Midyat ins Hotel. Wir sind nachdenklich und still.