Die Protestbewegungen im Iran aus kurdischer Perspektive
Behkash Takouk
Seit nun knapp zwei Wochen protestieren Frauen wie Männer sowie Schüler:innen in mittlerweile über 80 Städten und Dörfern gegen die Diktatur der Islamischen Republik Iran. Auslöser der Proteste war der Todschlag der jungen Kurdin Zhina (Mehsa) Amini durch die Sittenpolizei in Teheran. Seitdem wird mit dem Ausruf aus der kurdisch-feministischen Frauenbewegung „Jin, Jîyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) quer durchs Land vor allem – aber nicht nur – für Geschlechtergerechtigkeit und gegen eine Regierung, die ihre Macht unter anderem aus ethnischer und religiöser Spaltung zieht, protestiert.
Medien berichten von über 1200 Festnahmen. Seit einigen Tagen gehen die Revolutionsgarden sogar mit scharfer Munition gegen die Protestierenden in Teheran oder das von Belutsch:innen bevölkerte Zahedan vor, wo sie über 50 Menschen allein an einem Tag töteten. Diese Gewalt spürten die Kurd:innen bereits drei Tage nach Beginn der Proteste auf den kurdischen Straßen. Die Regierung entsandte das Militär in die kurdischen Städte und setzte Tränengas sowie scharfe Munition gegen die friedlichen Demonstrierenden ein. Seit Mittwoch attackiert sie sogar die Autonome Region Kurdistan (KRG) mit über 70 Raketen- und Drohnenangriffen im Nachbarland Irak. Die Angriffe rechtfertigt Teheran als legitimeReaktion auf die Proteste der Kurd:innen im eigenen Land. Mindestens 21 Menschen kamen ums Leben, darunter auch eine Schwangere Frau und ihr Baby, etliche wurden verletzt. Diese repressive Vorgehensweise reiht sich in eine historische Kontinuität der Unterdrückung von Kurd:innen durch die iranische Regierung ein und spielt bei den aktuellen Ereignissen im Iran eine bedeutende Rolle.
Die Unterdrückung von Kurd:innen im Iran
Im Nordwesten des Landes, welches unter Kurd:innen als ‚rojhelati‘ Kurdistan (zu Deutsch: der Osten Kurdistans) bezeichnet wird, leben mindesten zwölf Millionen Kurd:innen.
Vom Simko Schikak-Aufstand in den Jahren 1918-1922, über die Gründung der ersten kurdischen Republik in Mahabad im Jahr 1946, bis heute spielen die Kurd:innen im Iran eine führende Rolle im internationalen Kampf für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes. Sowohl die iranischen Monarchien als auch die sich wechselnden religiös-konservativen Führer der Islamischen Republik arbeiteten stets daran, kurdische Ambitionenfür Unabhängigkeit und Demokratie in der gesamten Region mit Gewalt und repressiven Mitteln entgegenzuwirken. Dies fand 1980 ihren Höhepunkt als der Revolutionsführer Ajatollah Ruholla Chomeini offiziell den Jihad gegen Kurd:innen ausrief und damit eine religiöse Legitimationsgrundlage für deren Tötung schuf. Bis heute gehen iranische Geheimdienste und Sicherheitskräfte mit besonderer Härte gegen Kurd:innen im Land vor, welches sich auch in den Statistiken verschiedener Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Hengaw zeigt.
Kurd:innen machen schätzungsweise nur etwa 12% der Gesamtbevölkerung des Landes aus. Dennoch stellen sie zahlenmäßig etwa die Hälfte aller Gefängnisinsass:innen im Iran und werden überproportional Opfer von Todestrafen. Auch jenseits seiner Grenzen geht der Iran gegen kurdische Zivilist:innen vor. Diese transnationale Repression zeigt sich unter anderem in der Ermordung verschiedener Intellektueller und hochrangiger Vertreter:innen kurdischer Parteien in Europa und dem benachbarten Autonomen Kurdistan im Irak. Trotz der jahrzehntelangen Verfolgung und Unterdrückung sowohl zu Zeiten der monarchischen Herrschaft als auch der Islamischen Republik, halten die Kurd:innen im Osten Kurdistans bis heute an ihren Forderungen und Bestrebung nach Freiheit und Unabhängigkeit fest. Diese fortdauernden Autonomiebestrebungen nahmen die führenden Regierungen bis dato zum Anlass die kurdische Region sowohl sozial als auch ökonomisch zu marginalisieren. Hinzu kommt die Unterdrückung der kurdischen Identität, Sprache und Kultur. Erst kürzlich wurde die junge Aktivistin Zahra Mohammadi zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie Kindern das Lesen und Schreiben auf Kurdisch lehrte.
Parallel dazu hat der Staat ein Narrativ von Kurd:innen als Spalter:innen der Gesellschaft, ungläubige Sunnit:innen sowie Ungebildete und Rückständige konstruiert. Diese rassistisch aufgeladenen Narrative haben sich bei Nationalist:innen, religiösen Fundamentalist:innen und Regimeanhänger:innen tief ins Gedächtnis eingeprägt. Unter anderem deshalb ist zu beobachten, dass die Regierung und ihre exekutiven Kräfte sich einer Willkürjustiz bedienen und dabei besonders hart vorgehen, wenn es um die Verhängung von Strafen bei Kurd:innen geht. Das alles spiegelt sich auch im Tod Zhina Aminis und den derzeitigen Protesten wider.
Junge Kurd:innen waren Motor der Protestbewegung
Dass Zhina Amini Kurdin war, spielt im Kontext dieser Bewegung also eine tragende Rolle. Die jungen Kurd:innen, die die Proteste in Gang setzten, gingen für und wegen der Person Zhina Amini, deren Fall sich einreiht in einer Kette von unverhältnismäßigen Repressionen gegenüber Kurd:innen, auf die Straßen. Zhina war nicht die erste kurdische Frau die vom Regime festgenommen und getötet wurde. Zur geschlechtlichen Unterdrückung kurdischer Frauen kommt die ethnische, religiöse und wirtschaftliche Unterdrückung und Ausbeutung Kurdistans hinzu. Diese mehrdimensionale Unterdrückung entflammte die Proteste und mobilisierte die kurdische Bevölkerung auf die Straßen. Selbst die gewaltvolle Antwort der iranischen Revolutionsgarden auf die Proteste konnte dem Unmut der Kurd:innen nichts entgegensetzen, sodass sie ihre Demonstrationen weiterführten und so zum Motor dieser Proteste wurden, bis sie sich schnell auch auf Metropolen wie Teheran, Meschhed bis hin nach Ghom übertrugen.
Die intersektionale Perspektive auf das Phänomen Zhina Amini
In der breiten Medienlandschaft wird mit Zhina Amini der Kampf um Frauenrechte ins Zentrum der Protestbewegungen gerückt. Frauen sind im Iran der misogynen Herrschaft der Islamischen Republik ausgesetzt. Ihre elementarsten Menschenrechte werden ihnen verwehrt. Bereits auf kleinste Widersetzung der auferlegten frauenverachtenden Vorschriften haben sie mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen, die von Prügel über Folter bis hin zum Tode führen können. Auch Zhina fiel einem staatlichen Femizid durch die Regierung zum Opfer, so lautet der allgemeine Konsens. Jedoch wird hier die Intersektion von Klasse, Ethnie und Geschlecht nahezu ausgeblendet. Die Tatsache, dass Zhina aus einer ökonomisch schwachen Familie stammte und deshalb der Gewalt einer Machthierarchie hoffnungslos ausgesetzt war, ist für die Kontextualisierung ihres Todes nicht unerheblich. Während Frauen aus wohlhabenden Familien in den nördlichen Stadtvierteln Teherans viele Freiheiten genießen, weil ihre männlichen Familienangehörigen es sich leisten können Polizeitbeamt:innen zu bestechen, werden Frauen aus den nicht elitären Gesellschaftsschichten in nahezu allen Bereichen ihres Lebens fremdbestimmt. Zudem spielt Zhinas ethnische Zugehörigkeit – und dem wird von den Mainstreammedien leider viel zu selten Raum gegeben – ebenso eine entscheidende Rolle. Im Iran sind Kurdinnen und andere Minderheiten deutlich häufiger von Femiziden und Repressalien durch die Regierung betroffen als nicht-kurdische Frauen, nur finden diese kaum mediale Beachtung. Und auch hier entscheidet die Intersektion von Ethnie und Geschlecht darüber, welche Teile der Gesellschaft sich mit Betroffenen solidarisieren und letztendlich wie sichtbar sie werden. Selbst nach ihrem Tod wird Zhina mit ihrem offiziellen persischen Namen Mehsa, den sie aufgrund der institutionalisierten Diskriminierung der kurdischen Identität erhalten hat, statt ihrem kurdischen Namen Zhina genannt. Noch immer wird ihre Herkunft, welche einer systematischen Unterdrückung des iranischen Herrschaftssystems ausgesetzt ist, viel zu selten thematisiert. Man ignoriert die Frage, ob das Verrutschen eines Hijabs auch für eine nicht-kurdische schiitische Frau, dieselben tödlichen Konsequenzen gehabt hätte, wie für Zhina, einer mehrfach diskriminierten jungen Frau auf der untersten Ebene der Machthierarchie.
Zhina wurde zur Symbolfigur, weil sie die Verwobenheit verschiedener Unterdrückungsmechanismen in sich vereint. Es ist notwendig diese Intersektionalität zu verstehen, um die Dynamik der aktuellen Bewegung insbesondere, aber nicht nur, in Ostkurdistan zu begreifen. Bei den Protesten handelt es sich nicht ausschließlich um einen feministischen, anti-patriarchalen und anti-islamistischen Kampf. Es ist auch ein Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und politische Unterdrückung von Minderheiten, von denen neben Kurd:innen auch beispielsweise Belutsch:innen oder Araber:innen betroffen sind. Und nicht zuletzt treibt auch die sich zunehmend verschärfende ökonomische Situation und die damit einhergehend steigende Armut im gesamten Land, die soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und die fehlenden politischen Alternativen die Menschen auf die Straßen. Das alles sind Gründe, die sie in ihrer Forderung nach einem Sturz des Regimes bekräftigen.
Die Solidarität mit allen Betroffenen, den Frauen wie Männern, die im gesamten Land ihr Leben auf den Straßen riskieren ist richtig und immens wichtig. Dennoch wird die kurdische Perspektive in den Diskursen um die Protestbewegungen hierzulande nicht ausreichend gehört. Diese mitzudenken, sie sichtbar zu machen und sich zu solidarisieren ist jedoch das Mindeste, was wir tun können – nicht zuletzt für Zhina und ihre Angehörigen.