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Cahit Basar-2013 Fotos: Paul Esser

Cahit Basar, Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V. (KGD), im Interview mit DGUV pluspunkt:

„An deutschen Schulen müssten viel mehr Lehrkräfte mit Zuwanderungsbiografien unterrichten.“

„Dieses Land braucht Dich!“

An deutschen Schulen müssten viel mehr Lehrkräfte mit Zuwanderungsbiografien unterrichten, sagt Cahit Basar. Im Gespräch mit DGUV pluspunkt erzählt der Kölner Gymnasiallehrer, welche Herausforderungen eine zunehmend multikulturelle Schülerschaft für Lehrkräfte bereithält und wie er seine eigene Biografie einsetzt, um heikle Elterngespräche zu führen.

Herr Basar, warum benötigen deutsche Schulen mehr Lehrerinnen und Lehrer mit Zuwanderungsbiografie?
Die Schülerschaft in Deutschland wird immer heterogener. Das ist eine der größten Herausforderungen unseres Schulsystems. Abhängig vom Bundesland haben 30 Prozent und mehr der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Zugleich gibt es aber nur drei bis vier Prozent der Lehrerinnen und Lehrer mit Zuwanderungsbiografie – ein sehr auffälliges Missverhältnis.

Aus welchen Gründen sind Lehrkräfte mit interkulturellem Background so wichtig?Erstens können diese Kollegen Rollen als Vermittler  übernehmen. Nicht nur, weil sie sich gut in den Denk- und Verhaltensweisen einer anderen Kultur auskennen.Sie wissen auch, wie schwierig es ist, die Gratwanderung zwischenWertesystemen zu bewältigen. Zweitens fördern Lehrkräfte mit Zuwanderungsbiografien bei Menschen aus anderen Herkunft sländern die positive Identifikation mit der deutschen Schule. Und drittens signalisieren sie, dass Zuwanderern aussichtsreiche Bildungs- und Berufskarrieren gelingen können.

Wie bringen Sie Ihre persönliche Biografie in den Schulalltag ein?
Unterredungen mit türkeistämmigen Eltern beginnen oft mit der Feststellung „Herr Basar, Sie wissen ja, wie das bei uns ist“. Meine Gespräche führe ich aus einem tiefen kulturellen, sozialen und sprachlichen Verständnis für die mir gegenübersitzenden Eltern. Diese Empathie erleichtert es mir auch, Krisengespräche mit der gebotenen sprachlichen Klarheit zu führen. Das ist nämlich notwendig, wenn man den Eltern klar machen muss, dass das Kind großen Mist gebaut hat und mit Konsequenzen rechnen muss. Natürlich hilft es auch, wenn man den Dialog gegebenenfalls auf Türkisch führen kann. Nicht wenige deutsche Kollegen werden bei diesen Gesprächen entweder schlichtweg nicht
verstanden oder scheuen sich, Tacheles zu reden, weil sie den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit fürchten.

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Der junge Cahit Basar (Bildmitte) mit Klassenkameraden, 1983, während seines Aufenthalts an einer Gemeinschaftshauptschule in Duisburg.

In der deutschen Schule treffen Schüler aus unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinander. Wie geht man damit um?
Nicht selten transportieren Jugendliche die Konflikte ihrer Herkunftsländer in die Schule. Oft werden Vorurteile bereits in deren Elternhäusern geschürt. Wenn sich Jugendliche mit Zuwandererbiografien in deutschen Schulen gegenseitig wegen ihrer Herkunft oder Religionszugehörigkeit angreifen, ist das unerträglich. Die Schule muss offensiv vermitteln, dass hier bei uns alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Religion, Anspruch auf die gleichen Bürger- und Freiheitsrechte haben. Für einige ist die deutsche Schule der einzige Ort, an dem sie interkulturelle Begegnung und kulturelle Vielfalt erleben. Diese Exklusivität sollte die Schule nutzen.

Unter welchen Umständen gelangte Ihre eigene Familie nach Deutschland?
Als Kurden aus der Türkei kamen meine Eltern während der 1960er-Jahre ins Ruhrgebiet. In Duisburg wurde ich zunächst in eine türkische Klasse eingeschult, weil meine Eltern planten, bald wieder zurückzukehren. Dann zeichnete sich jedoch ab, dass weder die politische noch die ökonomische Situation des Landes eine Rückkehroption bot. Also meldete mich mein Vater in einer deutschen Schule an. Für mich war das die Voraussetzung, dass ich später studieren und Lehrer werden konnte. Andere wurden als sogenannte „Kofferkinder“ zwischen den Ländern hin-und hergeschickt, weil ihre Eltern lange nicht wussten, ob sie dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben würden.

Wie schwierig war es für Sie in Ihrer Jugend, den Weg zwischen deutschem Alltag und den traditionellen Werten Ihrer Familie zu finden?
Während in vielen deutschen Familien zwischen Kindern und Eltern ein Generationenstreit ausgetragen wird, kommt in Zuwandererfamilien oft mals noch ein Kulturkonflikt zwischen Kindern und Eltern hinzu. Die Angst der Eltern, dass die Kinder kulturell entgleiten und verdeutschen“, ist groß.

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Der Geschichts- und Sozialwissenschaftslehrer möchte Schülerinnen und Schüler in interkulturellen Fragen sensibilisieren.

Hat Ihre Zuwandererbiografie die Entscheidung für den Lehrerberuf beeinflusst?Meine Eltern hätten es gern gesehen, wenn ich Mediziner geworden wäre. Oft möchten Migranten, dass ihre Kinder Ärzte, Rechtsanwälte oder Ingenieure werden – Berufe, die im Herkunftsland einen hohen Status genießen. Ich habe meine Eltern damals überzeugt, dass ich Geschichte und Sozialwissenschaften studieren möchte. Zuerst waren sie nicht begeistert. Das lag auch daran, dass es früher praktisch keine Lehrer mit Zuwanderungsbiografien gab, die Schule war für uns ein Ort deutscher Beamter.

Versuchen Sie, Jugendliche aus anderen Ländern für die Lehrerlaufbahn zu interessieren?
Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Oberstufenschülerin, die ich für geeignet hielt, Lehrerin zu werden. Sie hatte bisher nicht in Erwägung gezogen, Lehramt zu studieren. Ich riet ihr: „Mach es, dieses Land braucht Dich und Deine Erfahrungen!“ Ich ermutige die Schülerinnen und Schüler auch stets, in Bewerbungen ihre Mehrsprachigkeit positiv hervorzuheben.

Wie profitieren Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund von einem kurdischstämmigen Studienrat?
Als Geschichts- und Sozialwissenschaftslehrer ist es mir besonders wichtig, Themen wie etwa Rassismus und die angebliche Überfremdung des Landes kritisch im Unterricht zu behandeln. Darüber hinaus trägt die alltägliche Begegnung mit einem Lehrer wie mir vielleicht dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler eine interkulturelle Sensibilität entwickeln. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass ich die Klischees der Leute in Frage stelle: Meine biografischen Wurzeln liegen in der Türkei, trotzdem bin ich kein Gemüsehändler,kein Rapper und keine  Reinigungsfachkraft, sondern unterrichte am Gymnasium und repräsentiere als Beamter den deutschen Staat. Dies entspricht nicht so sehr üblichen Vorstellungen.

Wie müsste sich Schule verändern, um Jugendlichen mit Migrationsgeschichte besser gerecht zu werden?
Wir bräuchten deutlich mehr Lehrkräfte mit interkulturellem Hintergrund. Es müssten Konzepte entwickelt werden, damit sich eine positive Willkommenskultur in Schulen etablieren kann. Die Schüler- und Elternarbeit müsste stärker vernetzt werden, zudem wäre ein kultursensibles Konzept für den Übergang von Schule zum Beruf notwendig. Sinnvoll wären pädagogische Tage, um mehr Sicherheit im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft zu erlangen. Auch die Lehrerausbildung muss sich ändern. Wir sollten die Studierenden besser auf die interkulturellen Herausforderungen in den Klassenzimmern vorbereiten.

AUTOR

René de Ridder ist Redakteur bei DGUV pluspunkt.
quelle: http://www.dguv-lug.de/1014203.php?sid=82430560414424658738676267633570