„Die Scham über Gewalt zu sprechen ist groß – gerade bei starken Frauen“

Anlässlich der neuen Arbeitsschwerpunkte Gewaltprävention und Frauenempowerment unterhielt sich Kurdische Gemeinde mit Gülbahar*, einer Mitarbeiterin in einem hessischen Frauenhaus. Themen waren die aktuelle Lage in den Frauenhäusern, Gewalt in migrantischen Communities und was getan werden müsste, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern.

*Der Name wurde auf Wunsch geändert.

 

Wie ist die derzeitige Lage in den Frauenhäusern?

Bei unserem Haus handelt es sich um eine autonome Einrichtung mit 16 Plätzen. Wir nehmen Frauen und ihre Kinder auf, die von Gewalt betroffen sind. Wir sehen uns als Begleitteam und wollen die Frauen auf Augenhöhe beraten, sie nicht bevormunden. Auffällig ist, dass sich in Zeiten von Corona viel weniger Frauen sich gemeldet haben als zuvor. Über die Gründe konnten wir noch nicht reflektieren. Nahe liegend ist aber, dass die Angst vor Infektion im Frauenhaus oder die ständige Anwesenheit des Partners, Frauen daran gehindert hat, sich bei uns zu melden.

Wie können Frauen euch erreichen?

Über unsere Beratungsstelle vor Ort, aber auch über telefonische Beratung und das Internet. Freie Plätze in Frauenhäusern sind online einsehbar.

Wie ist die Lage innerhalb der kurdischen Community?

Viele junge Frauen, die über eine Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sind, haben Angst davor, dass sie zurück in die Heimat müssen und dort mit wesentlich älteren Männern wieder verheiratet zu werden, wenn sie nach Gewalterfahrungen ins Frauenhaus gehen oder sich für die Trennung entscheiden. Sie erhalten häufig Drohungen von der Familie und haben Todesangst. Meist erleben sie lange Gewalt, bis sie sich wirklich an ein Frauenhaus wenden. Denn neben der Angst, zurück zu müssen, haben diese Frauen große Existenzängste, sie haben keine finanziellen Grundlagen oder erfahren keine Unterstützung bei bürokratischen Hürden. Zudem werden diese Frauen von der eigenen Community stigmatisiert. Die Scham über Gewalterfahrungen zu sprechen ist groß – gerade bei starken Frauen. Auch wird den Frauen selbst im eigenen Umfeld keineswegs immer geglaubt. Es kommt daher sehr selten zur Strafanzeige oder dem Aufsuchen eines Frauenhauses: Meist werden andere „Lösungswege“ gesucht, etwa sich dem Mann zu fügen, genügsam sein. Es ist sehr schwierig in die Familien zu kommen, um das Problem anzusprechen. Oft kennen die Frauen ihre rechtlichen Möglichkeiten nicht, vor allem, wenn es um das Sorgerecht der Kinder geht.
 

Was müsste getan werden, um eure Arbeit weiter zu verbessern?

Gerade für Frauen mit Migrationsgeschichte gibt es aktuell viele Defizite, vor allem bei der Behandlung von traumatischen Erfahrungen fehlt es an kultursensible Psycholog*innen. Das betrifft Frauen, die schon länger hier sind, aber besonders neu zugewanderte Frauen mit Fluchterfahrung, etwa aus Syrien, Somalia… Sie kommen schon traumatisiert nach Deutschland. Diese Frauen stehen unter einer enormen Doppelbelastung: Sie sind in einem fremden Land, dessen Sprache sie noch nicht können, zum anderen fällt die familiäre Unterstützung weg. Wir haben einen hohen Bedarf an mehrsprachigen und kultursensiblen Sprachlots*innen, die in der Lage sind, die Frauen und ihre Leidenswege zu verstehen, mit denen wir kooperieren könnten und die auch begleitende Funktionen übernehmen. Bislang werden Dolmetscher*innen eingesetzt, aber hier gibt es keinen Pool für die Gestaltung der Vermittlung. Außerdem bedarf es verstärkter Bildungsangebote für die verschiedenen Communities, die etwa in Vereinen zu Fragen, wie „Wo fängt Gewalt an? Welche Rechte haben Frauen und Kinder?“ informieren. Dafür müssten wir Ansprechpartner*innen in migrantischen Vereinen und Institutionen haben. Vor allem bezüglich der neu Zugewanderten ist Präventionsarbeit sehr wichtig, damit diese von Beginn an für das Thema sensibilisiert werden.
Es ist sehr schwierig, in die betroffenen Familien zu kommen, ihr Vertrauen zu erlangen. Hier müssen andere Möglichkeiten geschaffen und Wege gesucht werden. Ein Weg sind sehr niederschwellige Projekte, die in die Familien gehen und gerade junge Mütter, die Frauen über ihre Rechte aufzuklären und zu Beratungsmöglichkeiten orientieren. Auch die Wichtigkeit des Erlernens der deutschen Sprache muss den Frauen vermittelt werden. Sie ist der wichtigste Schritt zur Unabhängigkeit der Frauen. Dazu gehören weitere Frauenangebote, wie Alphabetisierungskurse, Informationen zu Ausbildung und Führerscheinerwerb. Auch Frauen, die keinen Aufenthaltstitel und Papiere haben, können wir nicht helfen, ihnen steht weder ein Platz noch eine finanzielle Unterstützung zu.
 

Was erwartet ihr von der Politik?

 Die Istanbul-Konvention* muss eingehalten und umgesetzt werden. Die Anzahl der Plätze in den Frauenhäusern und ihre finanzielle Ausstattung ist immer noch nicht hinreichend und vor allem deutschlandweit nicht einheitlich geregelt. Jede Frau mit oder ohne Kind sollte Zugang zu einem Frauenhaus haben, unabhängig von Herkunft, Religion, Nationalität oder Aufenthaltstitel. Das Thema Gewalt an Frauen sollte Gegenstand der Lehrpläne in Schulen, aber auch von Fortbildungen für Fachärzte oder pädagogische Fachkräfte und kulturübergreifend behandelt werden. In unseren Augen findet häufig keine angemessene gerichtliche Verfolgung des Gewaltdelikts statt, Freisprüche oder milde Strafen sind zahlreich. Im Umgang mit Fällen häuslicher Gewalt wird nicht berücksichtigt, welche große Rolle die Ausübung von Gewalt für die Machtverteilung in der Beziehung/Ehe spielt.

*Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Es schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Auf seiner Grundlage sollen sie verhütet und bekämpft werden. Es trat am 1. August 2014 in Kraft.