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Der Soziologe Prof. Yaşar Abdulselamoğlu, Uni Sofia, referierte in der Gießener Kongresshalle auf Einladung der Deutsch-Kurdischen-Gesellschaft Gießen e.V. zu dem Thema Die Lage im Nahen Osten und Kurdistan.

Rückblickend ging der Soziologe auf die Teilung des Nahen Ostens ein, welche auf dem sog. Sykes-Picot-Abkommen beruht. Im Mai 1916, während des ersten Weltkrieges, wurden zwischen den Weltmächten, hauptsächlich Frankreich und England, die Grenzen des heutigen Nahen Ostens festgelegt.

In zwei Thesen näherte er sich den Ereignissen im Nahen Osten an:

1. Die Dichotomie zwischen Ost und West, was für ihn ein Konfliktpotential beinhalte.

2. Die Diskrepanz zwischen der islamischen Demokratie und der Modernität, was aus seiner Sicht die Quelle aller Probleme sei.

Die bestehende Dichotomie zwischen Ost und West führe dazu, dass der Westen den Nahen Osten unter seinem eigenen Blickwinkel betrachte und somit die Ereignisse falsch einordne.

Abdulselamoğlu betonte, dass die Menschen im Nahen Osten eine feststehende Meinung über die Entwicklungen im Nahen Osten haben und die Ereignisse aus diesem Blickwinkel betrachten, indem sie sagen, an Allem ist der Westen schuld, der gegen den Willen der arabischen Bevölkerung die Teilung vorgenommen hat. Die arabische Nation ist keine homogene Nation, daher ist die vorherige Aussage nicht zutreffend. Nicht umsonst existieren 22 unabhängige arabische Staaten. Wenn man es der Bevölkerung überließe, würden wahrscheinlich etwa 14 weitere arabische Staaten dazu kommen, aufgrund der konfessionellen sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzung innerhalb des Islam. Laut Aussage des Wissenschaftlers ist der nicht reformierte Islam die Hautursache der Konflikte im Nahen Osten. Der rückständige Islam lässt es nicht zu, dass sich die Freiheit des Individuums entwickelt. Dadurch ist es nicht möglich, eine gesellschaftliche Änderung durch einen demokratischen Prozess herbeizuführen, weil beim Islam alles auf Gemeinschaft beruht. Die meisten Veränderungen sind geschehen gegen den Willen der Mehrheit und werden von oben herab herbeigeführt, was in der Regel nicht akzeptiert wird.

Denn der Nahe Osten würde unter einer gemeinsamen Identität, vergleichbar mit der europäischen Identität, zusammengefasst werden, was aus seiner Sicht fatal ist. Abdulselamoğlu betont, dass sich der Nahe Osten jedoch in einem Umbruch befindet und der Arabische Frühling noch nicht beendet sei. Eine geografische Neustrukturierung sei denkbar, diese Veränderung werde auch Europa ändern.

Ausblickend sagte der Referent, es bedarf einer Politik, die zugeschnitten ist auf die Gegebenheiten im Nahen Osten. Die Religion ist fundamental in dem Leben der Menschen in diesem Gebiet, eine politische Lösung, die dies ignoriere, wird als Alternative zurReligion wahrgenommen. Auch der Status der Kurden spiele eine wichtige Rolle für die zukünftige Stabilität und Lösungsfindung für die Zukunft im Nahen Osten.

Im Westen werden die Kurden als ein Teil der arabischen Welt gesehen – was nicht stimmt – aber die Intention der Kurden, autonom zu sein, zersplittere die arabische Welt. Die Phantasie, die arabischen Nationen zu modernisieren, um die Islamisierung der arabischen Welt zu verhindern, integriere die Kurden und löse das Problem der Kurden nicht, so Abdulselamoğlu. Europa und die USA müssen sich hierder Verantwortung über die Realität und die Lösung des Kurdenproblems bewusst sein.

Die Kurden sind laut Referentem neben der Türkei, Iran und Saudi-Arabien mittlerweile als vierter Akteur in der Region aufgestiegen, was sowohl militärisch aber auch wirtschaftlich und politisch vom Westen berücksichtigt werden müsste.

An die Adresse Deutschlands gerichtet, sagte der Soziologe Abdulselamoğlu: „Die Lösung der langfristigen Flüchtlingsproblematik könne nicht nur in die Hände von Erdogan gelegt werden, sondern Frau Merkel müsse einen Plan B haben und die Kurden in diesen Prozess mit einbeziehen.“

Nach dem einstündigen Vortrag vor ca. 75 Zuhörerinnen und Zuhörern, der vom stellv. Vorsitzenden der Kurdischen-Gemeinde Deutschland, Mehmet Tanriverdi, moderiert wurde, beantwortete der Referent die Fragen des Publikums, unter denensich zahlreiche Gießener Kommunalpolitiker und Persönlichkeiten befanden.