Stippvisite im Kriegsgebiet
Zurzeit leben in der Kreisstadt etwa 90 000 Kurden aus Kobane. Ursprünglich sind etwa 400 000 aus Kobane und umliegenden Dörfern (Rojava-Kurdistan) geflüchtet, über den einzigen Grenzübergang nach Pirsus gekommen und weitergezogen. Die andere Hälfte der Flüchtlinge ist privat untergekommen, sie lebt unter anderem in leeren Baracken, Bauernhöfen und Zelten.
In Pirsus seien die Flüchtlinge mehr als sichtbar. Es gebe sehr viele kurdische Privatspender, die Hilfe leisteten. Kurdische Vereine und Parteien helfen ebenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Der größte Unterstützer sei die kurdische Bevölkerung in der Region. Staatliche Hilfe für die Flüchtlinge gebe es dagegen kaum.
Die Flüchtlinge aus Kobane versammelten sich tagsüber in der Innenstadt von Pirsus beim „Hinar“ und hätten meistens nur ein Thema: Der Krieg in der 15 Kilometer entfernten Heimatstadt und ihre Hoffnung auf die Rückkehr. Die meisten Flüchtlinge kennen sich untereinander. Auch die verschiedenen Gruppierungen können friedlich zusammenleben, sie sind gut organisiert.
„Wir hatten die Gelegenheit nahe zur Grenze zu fahren. Der einzige Grenzübergang ist gesperrt“, schildert Tanriverdi. Von den Hügeln auf der „türkischen“ Seite kann man bei guter Sicht die Stadt Kobane sehen. Nach einer Weile sah und hörte man die Granateinschläge der Artillerie aus der Stadt.
Am Zaun der Grenze entlang sind die türkischen Panzer postiert. Eine weitere Besuchsstation bildete Amed (Diyarbakir). Aufgrund der Ereignisse in den vergangenen Wochen sei die Lage weiterhin angespannt. Bei der Weiterfahrt nach Südkurdistan legte Tanriverdi einen Zwischenstopp bei Freunden in Nisebin ein. „Dort hatte ich die Gelegenheit, mit Vertretern der Stadt Gespräche zu führen“, berichtet der Gast aus Gießen.
Diese Region hat allein knapp eine Million von insgesamt zwei Millionen Flüchtlingen in Südkurdistan aufgenommen. In der Stadt Duhok sind die Flüchtlinge präsent. In jeder kleinen Stadt, in jedem Dorf sind Zelte zu sehen, die noch nicht fertiggestellten
Baustellen und Schulen sind von Menschen bewohnt. Tanriverdi nutzte die Gelegenheit, mit den Bewohnern zu sprechen. Sowohl die Universität Duhok, aber auch Grund- und weiterführende Schulen haben, so weit es geht, alle kurdischen Studenten und Schüler aufgenommen, habe der stellvertretende Präsident der Universität Duhok, Dr. Sabah Wais, bestätigt.
Südkurdistan alleine sei mit den knapp zwei Millionen Flüchtlingen überfordert und brauche weiterhin die Hilfe aus dem Ausland. Der Krieg belaste die Situation zusätzlich. „Kurdistan braucht unsere Hilfe in jeder Hinsicht. Wir müssen weiterhin für die Not leidenden Menschen um Unterstützung bitten und für die kurdischen Interessen werben“, appelliert Tanriverdi.
Türkischer Ministerpräsident vergleicht Pegida und IS
BERLIN. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat Parallelen zwischen Pegida und der Terrorvereinigung Islamischer Staat (IS) gezogen. Der IS habe in Mossul die Kirchen zerstört mit der Begründung, dies sei eine Stadt nur für Moslems. „Das ist dieselbe Logik, wie die von Pegida, daß Deutschland nur den Christen gehöre“, sagte Davutoglu der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Beide Haltungen würden „eine mittelalterliche Mentalität“ ausdrücken. Die Türkei sei „sehr besorgt über Pegida“, kritisierte der neue Regierungschef. Diese Bewegung strebe „eine exklusive christliche Gesellschaft“ an. Dies sei „nicht nur eine Bedrohung für Türken und Muslime, sondern auch für Deutschland selbst“. Wie nach der Weltwirtschaftskrise 1929 suche man in Deutschland die Schuld bei Minderheiten. „Das ist genau die Mentalität von IS.“
Kurden werfen Ankara doppeltes Spiel vor
Wie sein Amtsvorgänger Reccep Tayyip Erdogan, den jetzigen türkischen Präsidenten, verlangte Davutoglu ein militärisches Vorgehen gegen die syrische Regierung. „Der Kampf gegen den Terror ist keine Alternative zum Kampf gegen ein brutales Regime.“ Würde man nur den IS bekämpfen, „bliebe er in der Türkei“. Denn in der Türkei würden anderthalb Millionen syrische Kriegsflüchtlinge leben, so die Argumentation des Regierungschefs.
Scharfe Kritik am Besuch des türkischen Ministerpräsidenten übte die Kurdische Gemeinde Deutschland. „Während deutsche Soldaten mit Patriot-Raketen die türkische Grenze vor Syrien beschützen, hat sich die Türkei zu einem der größten Kriegstreiber in Syrien entwickelt“, kritisierte Bundesvorsitzender Ali Ertan Toprak die Haltung von Davutoglu. Er warf der türkischen Regierung ein doppeltes Spiel mit der heimlichen Unterstützung des IS vor.
Mit dem offen erklärten Ziel, die syrische Regierung zu stürzen und neo-osmanische Interessen durchzusetzen, „gewährt die türkische Regierung den Djihadisten aus Europa einen ungehinderten Transit nach Syrien“. Die tatsächlichen Kriegsbelastungen werden dabei mit ausländischer Hilfe von den Kurden in der Türkei selbst getragen. „Ankara hingegen hat sich entgegen anderslautenden propagandistischen Verlautbarungen bisher der Verantwortung gegenüber den kurdischen Flüchtlingen entzogen.“ (FA)
“Das ist wie eine Demo mit Pegida gegen Nazis”
Weitere Nachrichten von Welt.de :
http://www.welt.de/print/welt_kompakt/article136343243/Zusammen-stehen-Gesicht-zeigen.html
Auch in Gießen Entsetzen über Attentate von Paris
Gießen (mö). Neben der Islamischen Gemeinde in Gießen haben sich auch zwei überregionale Organisationen, die ihren Sitz in der Universitätsstadt haben, in den letzten Tagen zu den Terrorangriffen in Paris geäußert.
So warnt die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen (IRH) davor, dass mit den Taten ein »Kulturkampf« geschürt werden könnte. Dies würde nur den Extremisten nützen, erklärt Vorsitzender Ramazan Kuruyüz in einer Pressemitteilung.
Die abscheuliche Taten seien durch nichts zu rechtfertigen, »erst Recht nicht im Namen des Islam«, schreibt der IRH-Vorsitzende. Das Ziel solcher Gewalttaten, egal von wem sie ausgingen und gegen wen sie sich richteten, sei die Zerstörung des gesellschaftlichen Friedens und das Schüren eines Kulturkampfes. Die Religionsgemeinschaften und die Gesamtgesellschaft dürften sich von keiner Seite in diesen Konflikt hineintreiben lassen. Kuruyüz: »Wir müssen alle gemeinsam gegen den von extremistischen Kreisen geschürten Kulturkampf angehen. Deshalb müssen wir vor allem gegen alle Extremisten in unseren eigenen Reihen kämpfen, die das Leben und die Würde des Menschen verachten und unseren gesellschaftlichen Frieden zerstören wollen.«
Auch die in der Südanlage ansässige Kurdische Gemeinde Deutschland zeigt sich »entsetzt« über das Massaker in der französischen Hauptstadt. Die kurdische Organisation erinnert daran, dass im vergangenen Jahr viele Menschen gerade aus dem Nahen und Mittleren Osten vor Diktaturen oder Religionsfanatikern, die mit ihrer Barbarei die Deutungshoheit über den Islam zu gewinnen versuchten, in Europa Schutz gesucht haben. Es müsse daher die Aufgabe aller sein, die freiheitlichen Werte der Europäer gegen diese Strömungen zu verteidigen.
Auch in der Gießener Politik haben einige Parteien und Einzelpersonen im Internet spontan ihre Solidarität insbesondere mit den Opfern aus der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo bekundet. Unter anderem der FDP-Stadtverband, die Jungen Liberalen, die Kreisgrünen und die Piratenpartei, CDU-Chef Klaus Peter Möller sowie CDU-OB-Kandidatin Anja Helmchen posteten entsprechende Botschaften.
“Zusammenstehen – Gesicht zeigen”
Politik und Religionsvertreter halten Mahnwache am Brandenburger Tor
Von Anne-Beatrice Clasmann, Georg Ismar, Freia Peters
Bundespräsident Joachim Gauck, dessen Herzensthema die Freiheit ist, ist froh, dass der Zentralrat der Muslime diese Veranstaltung organisiert hat. Er sagt: “Das ist ein patriotisches Ja zu dem Land, in dem wir gemeinsam leben.” Doch Gauck will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, er kehre die real existierenden Probleme unter den Tisch. Der Bundespräsident sagt, ja, es gibt Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Auch radikale Islamisten und Menschen, die auf der Straße antisemitische Parolen riefen, seien bedauerlicherweise Teil der gesellschaftlichen Realität. Und ja, die Distanz zwischen Einwanderern und Einheimischen sei immer noch zu groß. “Wir alle sind Deutschland”, sagt Gauck. Den Terroristen ruft er entgegen: “Euer Hass ist unser Ansporn.”
An der Veranstaltung nahmen Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), Spitzenvertreter aller Bundestagsparteien sowie Repräsentanten von Muslimen, Christen und Juden teil. Zum Zeichen der Verbundenheit traten abschließend alle untergehakt an den Rand der Bühne.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, spricht auch im Namen der Vertreter aller muslimischen Verbände den Terroropfern und ihren Hinterbliebenen seine Anteilnahme aus. “Wer einen Menschen ermordet, tötet die gesamte Menschheit”, zitiert er den Koran. Die Terroristen hätten mit ihrer Tat “die größte Gotteslästerung begangen”. Sie hätten “den Islam verraten und seine Prinzipien in den Schmutz gezogen”, betont Mazyek, und: “Wir werden nicht zulassen, dass unser Glaube missbraucht wird.” Zugleich hebt er die Zugehörigkeit der Muslime zu Deutschland und ihre Verantwortung für eine offene Gesellschaft hervor. “Uns eint, dass wir der Gewalt und Intoleranz entgegentreten. Wir alle sind Deutschland.”
Das Bild des Brandenburger Tores ist beeindruckend. Säulen und Quadriga leuchten in den Farben der Trikolore. In Sichtweite ist die französische Botschaft, an der Glasfront im Eingangsbereich hängt ein schwarzes Plakat, in weißer Schrift sind dort die 17 Toten aufgelistet: Mitarbeiter der Satirezeitschrift “Charlie Hebdo”, Polizisten und vier jüdische Bürger, die in einem Supermarkt erschossen worden sind. Viele Teilnehmer der Mahnwache haben sich kleine “Je suis Charlie”-Aufkleber auf die Jacken geklebt. Im Blumenmeer vor der Botschaft liegt ein Schild mit der Aufschrift “Berlin ist Charlie”, auf anderen steht “Liberté”, “Warum?” und “Meinungsfreiheit ist nicht verhandelbar”. Die geballte politische Prominenz, die auf der Bühne steht, ist auch das Signal, die gemäßigten Muslime zu unterstützen.
“Zusammenstehen – Gesicht zeigen” ist das Motto der Mahnwache. Doch so richtig zusammen stehen eigentlich nur die Politiker und die Vertreter der verschiedenen Religionsgemeinschaften auf der Bühne. Unten auf dem Platz stehen die verschiedenen Gruppen dagegen eher für sich – die Exil-Iraner, die Araber und die Deutschen, von denen einige Kerzen mitgebracht haben. Zum Schluss haken sich alle auf der Bühne unter, so wie bei dem Gedenkmarsch für die Terroropfer am vergangenen Sonntag in Paris. Viele Menschen unten auf der Straße folgen dem Beispiel der Politiker und religiösen Würdenträger. Auch der frühere Bundespräsident Christian Wulff steht oben auf der Bühne. “Der Islam gehört zu Deutschland”, er hat für diesen Satz während seiner Amtszeit viel Kritik einstecken müssen. Heute kann er sich irgendwie bestätigt fühlen.
Schon im Vorfeld der Mahnwache hat es auch Kritik an der Veranstaltung gegeben. “Wissen die deutschen Parteien, mit wem sie da demonstrieren?”, fragt Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland. “Muslimbrüder und Atib, eine Abspaltung der türkischen Grauen Wölfe sind Mitglied des Zentralrats der Muslime. Das sind Fundamentalisten und Islamofaschisten. Wie kann man einerseits Pegida verteufeln, aber mit ihren muslimischen und türkischen Gesinnungsgenossen eine Mahnwache gegen Extremismus machen? Das ist genauso, wie eine Demo der Regierung mit Pegida als Antwort auf einen Anschlag von Nazis auf ein Asylbewerberheim”, kritisiert der Kurde Toprak.
Atib ist ein Dachverband türkisch-islamischer Kulturvereine. Der Verband ist eine Abspaltung der Auslandsorganisation der Grauen Wölfe, einer rechtsextremen türkisch-nationalistischen Bewegung, die in der Vergangenheit des Terrorismus bezichtigt wurde. Als Feindbilder sehen die Grauen Wölfe vor allem Kurden, aber auch Juden, Christen, Europa, die USA. Atib weist eine Verbindung zurück und hat sich von den Gewalttaten der Grauen Wölfe distanziert. Vom Verfassungsschutz wird der Verband nicht beobachtet. Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland ist ein Ableger der international operierenden, radikalen Muslimbrüder und ebenfalls Mitglied im Zentralrat der Muslime. Beide Organisationen hatten die Anschläge in Paris verurteilt.
Auch der Christlich-Alevitische Freundeskreis der CDU ärgert sich, dass Mitglieder der Bundesregierung an der Mahnwache des Zentralrats der Muslime teilnehmen. “Ich sehe es als kritisch an, dass die Muslimbrüder auch noch ihreDa’wa (arabisch: Propaganda) erfüllen dürfen”, sagt Ali Yildiz, Sprecher des Christlich-Alevitischen Freundeskreises der CDU, weil auch Koranverse verlesen werden.
Die als liberal geltende Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), Mitorganisator der Mahnwache am Brandenburger Tor, sieht das anders. “Es mag sein, dass der Zentralrat der Muslime den einen oder anderen Verband als Mitglied hat, über den man verschiedener Meinung sein kann”, sagt TDG-Vorsitzender Safter Cinar. “Diese Überlegung jedoch sollte man in diesem Augenblick hinten anstellen. Denn wichtig ist jetzt das gemeinsame Zeichen: Es gibt deutsche Muslime, und die gehören zu unserem Land dazu.”