Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan


Der kurdische Traum vom eigenen Staat

Von Jan Ilhan Kizilhan

Quelle: http://plus.faz.net/politik

Mit 40 Millionen Menschen sind die Kurden das größte Volk der Erde ohne eigenen Staat. Nun erheben sie im Nordirak aber Anspruch auf einen Staat. Der Irak, Iran, die Türkei und Syrien – die Staaten, in denen die Kurden leben – haben jedoch kein Interesse an einem Kurdenstaat. Er würde die Integrität ihrer Länder gefährden, die Region destabilisieren, zu neuen Kriegen führen, sagen sie. Westliche Diplomaten blasen ins gleiche Horn, auch der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel.

Ich bin seit Jahren in dieser Region unterwegs, meine Vorfahren stammen von dort. Weder meine Vorfahren noch ich haben jemals die Region stabil erlebt. Im Innern waren die Staaten fragil – seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und seit der Bildung der neuen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Der Westen blickte auf den Irak Saddams, auf das Syrien der Assads, auf das Libyen Gaddafis und das Ägypten Mubaraks, und er glaubte fälschlicherweise, berechenbare Stabilität zu sehen. Er hält weiter an solchen Illusionen fest, denn er denkt in den alten Schemata der nationalen Integrität und geht davon aus, dass Veränderungen zu unberechenbaren Krisen führen könnten. Dabei ist heute die Situation der Menschenrechte in dieser Region eine nicht enden wollende menschliche Katastrophe. Die Gesellschaften sind traumatisiert, sie werden noch Generationen darunter leiden.

Der Irak, in dem Kurden einen Staat wollen, existiert de facto seit einigen Jahren nicht mehr. Die schiitisch geprägte Regierung hat das Land durch ihre Politik der Spaltung und Unterdrückung der Sunniten an den Abgrund geführt. Sie war in den letzten drei Jahren weder fähig noch willens, das Morden des IS wirksam zu beenden und ihre Bürger gegen Terror zu schützen.

Das Vertrauen der Kurden, Sunniten und Schiiten untereinander ist schon lange aufgebraucht, und der Versuch Bagdads, eine „nationale Einheit“ zu beschwören, hat keinen Erfolg. Denn eine irakische Nation, mit der sich die Ethnien und Konfessionen identifizieren könnten, gibt es nicht. Die Sieger des Ersten Weltkriegs hatten einen künstlichen Staat geschaffen, seine zahlreichen Ethnien und Religionen haben jedoch nie eine nationale Identität entwickelt. Eine sunnitische Minderheit unter der Führung der Baathisten unterdrückte mit ihrer Vision eines arabischen Nationalismus Kurden, Schiiten und andere Gruppen. Das ist es, was den Irak weiter beherrscht: eine tiefe Zerrissenheit, Misstrauen, eine unverarbeitete transgenerationale Traumatisierung der Menschen. Die Besetzung von Teilen des Iraks durch den IS hat diese Kluft vertieft. Würde der eigentlich nicht mehr existierende Staat Irak aufrechterhalten, würde das die Region destabilisieren. Erst das Vakuum und die Paralysierung haben die Ausweitung des IS ermöglicht sowie die Verbreitung von Angst und Schrecken im Nahen Osten bis nach Europa.

Die kurdische Frage drängt nach einer Lösung. Die Weltgemeinschaft kann den Kurden nicht ewig das Recht auf Selbstbestimmung verweigern und das mit den immer gleichen politischen Macht- und Interessenszenarien begründen. Wenn ich mit den Kurden im Nordirak spreche, sagen sie mehrheitlich, dass sie endlich eine Chance sehen, einen eigenen Staat zu haben. Sie sagen, dass sie im Kampf gegen den IS-Terror an vorderster Stelle gestanden haben und stehen, ob Mann oder Frau. Sie verstehen sich als westlich orientierte Ordnungsmacht – an der Seite des Westens. Sie haben es verdient, in einem eigenen Staat zu leben. Kein Tabu sein dürfen auch in einem Kurdistan regionale Autonomiestrukturen für die Jesiden, auch nicht mehr Rechte für andere religiöse Gruppen wie Christen, Schabak, Mandäer oder Kakai. In einem kurdischen Staat müssen die demokratisch-föderalen Strukturen weiterentwickelt werden.

Entstehen kann ein kurdischer Staat, wenn der Westen nicht kurzfristig taktisch reagiert, sondern langfristig strategisch denkt und die Bestrebungen der Kurden nach Unabhängigkeit toleriert – und sie nicht aus falscher Solidarität und Angst vor den Machthabern der Region grundsätzlich ablehnt.

Der Autor ist Psychologe, Orientalist und Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen. Er leitete in Baden-Württemberg die Behandlung traumatisierter jesidischer Frauen und Kinder.