Hans-Joachim Löwer: Die Stunde der Kurden. Wie sie den Nahen Osten verändern. Styria Premium Wien 2015 205 Seiten

Hans-Joachim Löwer: Die Stunde der Kurden. Wie sie den Nahen Osten verändern. Styria Premium Wien 2015 205 Seiten

 

Rezension von Rupert Neudeck

Das Buch passt in die Aktualität. Wir sind alle fast sprachlos Zeugen der einzigen großen Verteidigung der westlichen Welt gegen die Verbrecherbande von IS. Wir sind völlig gebannt von der Tatsache, dass die Kurdistan Bevölkerung von 5,3 Mio eine Flüchtlingsbevölkerung von 2 Millionen aufnimmt. Die Kurden werden plötzlich zu Stabilisatoren der Lage in einem Teil des Nahen Ostens. Sie entwickeln eine Kraft zur aktiven Koexistenz mit allen Religionen der Region, die nur noch Bewunderung zulässt: Alle verfolgten Religionsgemeinschaften haben ihre Hauptquartiere wieder in Kurdistan aufmachen können. Die Chaldäer, die Katholiken, die Orthodoxen, die Aramäer, die Assyrer, die Jeziden, die Aleviten, die Sunniten, die Schiiten. Fehlen nur noch die Juden, aber das wird bestimmt auch wieder kommen.

Hans Joachim Löwer beschreibt das, was jeder Besucher dieser kurdischen Entität auch erlebt. Er beschreibt einen unglaublichen ökonomischen Boom, der west- und mitteleuropäische Länder vor Neid erblassen läßt. Er beschreibt, wie sich das immer wieder im letzten Jahrhundert betrogene Volk der Kurden jetzt zu einer Kraft herausgefordert sieht, die niemand ihm zugetraut hätte. Es wachsen da Menschen heran, die eine Kraft der kollektiven und privaten Verwirklichung bergen, die man nicht für möglich gehalten hat. Leute wie Bischakot Disajeh. Er ließ das „Hawler Plaza Hotel“ hochziehen, mit 52 Luxuszimmern auf acht Stockwerken verteilt. Das Hotel hatte zwei Restaurants, swimmingpool und Spa, und alle Geschäftsleute kamen zu ihm. Es waren Menschen wie Bischakot, die ihre Prämien nicht auf dem Schlachtfeld errungen hatten. „Kaum hatten die Kurden – durch die Einrichtung einer Flugverbotszone – eine Art Schutzhülle um sich, zeigte sich, dass dieses Volk deutlich mehr drauf hatte als nur Kämpfen und Schießen“. Leute wie dieser Bischakot geben seit zehn Jahren Kurdistan einen Schub, „wie es keines der Nachbarländer erlebt. Ein Bergvolk, das vor einem halben Jahrhundert noch Stoff für Karl May Bücher gegeben hatte, katapultiert sich ins 21. Jahrhundert“.

Die IS-Bande ist nur eine Autostunde von dem Platz entfernt, an dem der Autor mit dem Unternehmer spricht. „Für Bischakot sind es Lichtjahre“. Er sagt: Diese Leute tun nichts anderes, „als den Islam zu beschmutzen. Die ziehen ja nur Blutspuren hinter sich her. Ist das etwas, worauf man stolz sein kann?“ Löwer beschreibt, wie das alte furchtbare Foltergefängnis der Anna Suraja, der Roten Sicherheit, in Sulaimania 1991 befreit und jetzt ein großes Museum wurde.

Das Buch deutet auch die Probleme an, die durch einen kapitalistischen Aufbau entstanden sind. Früher seien alle Peschmerga Führer immer die Ersten unter Gleichen geblieben. „Früher seien die Kurden im Leiden geeint gewesen – heute drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander“. Wir müssen jetzt – zitiert der Autor einen seiner Gesprächspartner, den Lungenspezialisten Dr. Kamaran Karadachi – „den Kampf im Innern gewinnen – und das ist schwerer als gegen den Feind von außen“.

Er beschreibt das alles in kleinen Reportage-Artikeln, die von Sulaimania, der Kulturhauptstadt der Kurden ausgeht, dann nach Halabscha weitergeht, wo es am 16. März 1988 zu einem der größten Menschheitsverbrechen gegen die Kurden kam, als Saddam Hussein Senf- und Nervengas in den Ort hineinschoß und abwerfen ließ. Man schätzt, dass mindestens 5.000 Kurden dabei unter gräßlichen Umständen ums Leben kamen. Er geht mit dem in Deutschland groß gewordenen Bürgermeister von Erbil durch seine Stadt, die aus allen Nähten platzt. Der Bürgermeister Nihad Kodscha, hat in 2015 sein Amt nach 12 Jahren ununterbrochener Tätigkeit aufgegeben. Löwer berichtet noch, dass er zurück zu seiner Frau und Familie nach Bon gehen will. Aber heute wissen wir, dass Nihat Kodscha unentbehrlich ist für die Frage der Integration und teilweisen Eingliederung der Jeziden- und Aleviten- Flüchtlinge in Kurdistan. Er wird zwar mehr Zeit für seine Familie und sein behindertes Kind haben, aber nicht so viel wie er noch in den letzten Jahren dachte.

Kurdistan war durch die Armee von Saddam Hussein so minenverseucht, dass es zu großen und gefährlichen Minenräumeinsätzen kommen musste. Löwer begleitet einen Enthusiasten für die kurdische Sache, der selbst schon behindert war und diese Arbeit immer weiter betrieben hat, mit 540.000 gesäuberten Hektar Land. Er beschreibt einen ex-Kommunisten, der zum Milliardär wurde. Und geht weiter nach Koya, wo er etwas antrifft, was früher nicht ging: eine unverheiratete Kurdin, die für eine neue Rolle der Frauen eintritt. Er zieht von Kubaschi, wo er die Kämpfer der Peschmerga aufsucht, nach Qala Tschuwalan. In Bahirka bereiten sich die Kurden vor, für eineinhalb Millionen Flüchtlinge eine Unterbringung zu organisieren; sie erleben die Schrecken des Islamischen Staates, oder des „Daesch“, wie die Kurden abgekürzt sagen. Die meisten kommen aus Mossul, die Häuser wurden in Mossul mit einem N markiert, das steht für „Nasara“, also Christen. Andere Häuser tragen ein „R“ für Rafida, also die „Abtrünnigen“, damit waren die Schiiten gemeint. Da wussten die Hausbewohner, was ihnen blühen würde, wenn sie nicht sofort abhauen würden. Die IS-Leute haben eine Preisliste für den Sklavenhandel mit christlichen und jesidischen Frauen veröffentlicht. Kurdistan ist nicht mal so groß wie Niedersachsen, aber eine Oase der Toleranz und der Koexistenz. Der Campmanager Besan sagt dem Autor: „Im Lager Bahirka darf niemand fragen, wer welche Religion hat. Es spielt schlicht und einfach keine Rolle“. Schon die Frage danach sei verboten. In Kurdistan sei jeder willkommen, nur die nicht, die Gewalt predigen.

Es sind einfühlsam informative Kapitel über die Jesiden, die hier unterkommen können, die eine sehr altertümliche hierarchische Gesellschaft sind, die etwa 800.000 Jesiden vertritt. Der Baba Scheich, der Scheichvater heißt Chruto Hadschi Ismael, den der Autor in dem Städtchen Scheichan trifft. Die Jesiden sind durch die Jahrhundert immer verfolgt. Sie sind verhasst als „Teufelsanbeter“, obwohl die Religion das gar nicht kennt, den Teufel. 1246 ließ der Herrscher von Mossul den Jesidenführer Scheich Hassan in Mossul ermorden. 1649 verwüsteten osmanische Truppen 300 Jesiden Dörfer und ermordeten 1000 Einwohner, die sich in Höhlen versteckt hielten. Unter Saddam Hussein begannen die Deportationen von Kurden, also auch Jesiden. Ihre Dörfer wurden zerstört oder an arabische Siedler vergeben. Die strikten Regeln, nach denen die Jesiden leben, wurden vom großen Reformator Scheich Adi erlassen (1074-1162). Die Glaubensgemeinschaft ist antimodern in Kasten aufgeteilt. Jede Familie muss einen Scheich und einen Pir als Führer haben. Über allen Jesiden steht der Mir, der die Jesiden gegenüber Staaten und Stämmen vertritt und der Baba Scheich, der für die korrekte Einhaltung der religiösen Rituale sorgt. Der Autor fragt unvermittelt seinen Gesprächspartner: welche Zukunft die Jesiden haben. Die meisten jüngeren haben die Hoffnung verloren, wieder in die Dörfer zurückzugehen. Sie schauen nur nach Europa und die USA. Es werden immer mehr in der Diaspora leben. Jeden Tag vor Sonnenuntergang zündet der Diener auf dem sakralen Gelände ölgetränkte Wolldochte an. Sie sagen den Jesiden, dass der Mensch Licht braucht. „Ohne Sonne kann der Mensch nicht leben!“

Was wird aus Kurdistan, ein eigener Staat oder ein Autonomes Gebiet innerhalb des Irak? Das hängt stark an dem Öl und der Einnahme von Kirkuk durch die Regionalregierung Kurdistan. Dort sind die mächtigsten Ölfelder. Kirkuk hat eine Sonderstellung: es wurde in der Verfassung, Art 140 eine Volksabstimmung angesagt, die aber bis heute nicht stattgefunden hat. Es wird jetzt, nachdem Bagdad für Kurdistan nicht mehr zahlt, das Öl über die Pipeline bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan gebracht. Pro Tag produziert die Ölanlage Arafa 500.000 Barrel, ein Barrel hat 169 Liter. Aber Bagdad protestiert. Am 9. Juni 2014 fuhr ein Öltankschiff von Ceyhan mit Öl in Richtung Malta. Unterwegs übernahm ein israelisches Tankschiff die SCF Altai, die Ladung. Im Hafen Aschkelon wurde die Ladung in einen Speicher gefüllt, das kurdische Energieministerium verkündete, man habe die Einschüchterung durch Bagdad überwunden. Die Kurden, so Löwer, seien weder zu Lande noch zu Wasser zu stoppen. Bis Ende August 2014 hätten sie 7,8 Millionen Barrel Öl verkauft. Ende 2014 waren zwei neue Leitungen fertig, die aus Kirkuk in Richtung Churmala und dann Ceyhan führten… Der Öldeal ist der entscheidende Schritt für die Unabhängigkeit.

Löwer betont. „Ein Peschmerga ist Kurde mit Leib und mit Seele. Für einen wie Oberst Ramadan sei es ein Quantensprung in der Geschichte. Vor 20 Jahren hätten ihn die Sicherheitsschergen von Saddam ganz anders für dieses Engagement behandelt. Sie haben ihm die Lippen zugenäht. Wie zum Abschluß gibt es noch einen Beweis, dass dieses Kurdistan eine Hoffnungsrepublik werden könnte. Eine Republik, in der junge Leute wie Dlawer ala’Aldeen als Minister für Bildung und Wissenschaft und jetzt als Direktor des Think Tanks, Middle East Research Institute das Sagen haben und selbstkritisch bleiben. Heute, sagt Dlawer im Interview, akzeptieren nicht nur die Freunde der Kurden das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch die Feinde. Der Staat hat noch lange nicht die innere Stärke. „Bedenken Sie, dass wir aus den Bergen gekommen sind und keine Erfahrung hatten, wie man ein Land regiert“. Nie zuvor sei die Konstellation für ein türkisches staatliches Gemeinwesen so gut gewesen wie heute. Es gab 1996 einen Tiefpunkt der kurdischen Geschichte, als die Anhänger von Barsani und Talabani den Birakudschi exekutierten, den Bruderkrieg. Die letzten zehn Jahre hätten gezeigt, dass sich Kurdistan vom Rest-Irak unterscheide. „Hier gibt es Demokratie, Stabilität und Frieden. Ja, es gibt große Probleme – aber auch das Potential sie zu lösen“. Die Führer der Kurden seien zu Staatsmännern und Geschäftsleuten geworden.

Das Buch mündet in der Beschreibung der Internationalen Schule, einem Gymnasium, das von dem Bischof der vereinigten Bistümer Amadia und Zacho, Rabban al-Qas. Er meint, die Kirchen im Orient und die Christen können sich den Luxus der Selbstzerfleischung gar nicht mehr leisten. Er hat eine internationale Schule gegründet, deren erstes markantes Kennzeichen darin besteht, dass sie ganz säkular ist. Jungen und Mädchen gehen in die gleiche Klasse, bisher gab es so was noch nicht. Der Bischof hat mit allen schlechten Traditionen gebrochen. Bisher hatten die Volksgruppen ihre eigenen Schulen, Rabban vereinte Kurden, Araber, Turkmenen. Bisher hatten die Religionen ihren eigenen Unterricht an ihren Schulen. Bischof Rabban brachte Christen, Muslime und Jesiden zusammen. Er sagt: „An dieser Stelle wollen wir Menschen ausbilden, die einmal die Führung dieses Landes übernehmen sollen“. Und die Schule ist säkular. Religionsunterricht sei nicht Sache des Staates, sondern der Religionsgemeinschaft. Der schönste Satz, so beherzigenswert für Deutschland steht am Schluß dieses kleinen Buches: „In Kurdistan können die Christen ihre Messen feiern, ohne ihre Kirchentüren verrammeln zu müssen“.

Die alten Grenzen hätten hundert Jahre gehalten. Wir können sie den Menschen „nicht noch einmal hundert Jahre aufzwingen“. Ein hoffnungsvolles gutes Buch für die Kurden, für Europa und den Nahen Osten.

Quelle: Rupert Neudeck – http://gruenhelme.de/