Geschichte bedeutet Mut zur Auseinandersetzung

Die Kurdische Gemeinde Deutschland (KGD) organisierte einen Besuch einer Gedenkstätte, um die Integration der Kurden zu stärken und um das Bewusstsein  der aus allen Teilen Kurdistans nach Deutschland Gekommenen für die Geschichte Deutschlands zu schärfen.

In diesem Rahmen wurde das in der Nähe von München gelegene Konzentrationslager Dachau besucht, das während der Zeit des Nationalsozialismus errichtet wurde und in dem etwa 200.000 Menschen inhaftiert und ein Großteil von ihnen ermordet wurden. Der Besuch wurde organisiert, um durch die direkte Begegnung mit einer der dunkelsten Perioden der Geschichte das gesellschaftliche Bewusstsein und die Sensibilität zu stärken.

Ich nahm an dieser von der Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD) organisierten Veranstaltung teil und besuchten dieses grausame Lager. Während des Besuchs hatte ich die Gelegenheit, mit Cahit Başar, dem Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland, der zu den Organisatoren gehörte, ein kurzes Interview über den Besuch dieser historischen Gedenkstätte zu führen.

Neben Ihrer Tätigkeit als Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland sind Sie auch als Geschichtslehrer tätig. Daher möchte ich Ihnen zunächst folgende Frage stellen: Was möchten Sie über die Entstehungsgeschichte des Konzentrationslagers Dachau sagen?

Wir befinden uns im Konzentrationslager Dachau. Dieses Lager war das erste Konzentrationslager, das von den Nazis errichtet wurde. Vor allem in der Anfangszeit wurden hier deutsche Kommunisten, Sozialisten und Oppositionelle zusammengetrieben. Das heißt, alle Deutschen, die gegen das damalige Regime waren, wurden hierher gebracht. Später wurden hier etwa 60.000 Juden und Kriegsgefangene festgehalten. Die Kriegsgefangenen mussten unter harten Bedingungen in der Kriegsindustrie arbeiten, während die jüdischen Gefangenen in Vernichtungslager gebracht wurden. Zwischen 1933 und 1945 wurden in diesem Lager etwa 200.000 Menschen gefangen gehalten.

Der für die Führung zuständige Mitarbeiter sprach von der Vernichtung von 200.000 Gefangenen. Wurden in diesem begrenzten Raum, den wir besuchten, 200.000 Menschen ermordet?

In diesem begrenzten Raum, den wir besuchten, war es unmöglich, 200.000 Gefangene auf humane Weise festzuhalten. Die Gefangenen dieses Lagers waren ohnehin Teil einer Strategie, die auf ihre psychische und physische Zerstörung abzielte. In diesem Lager der Grausamkeit wurden 45.000 Menschen ermordet.

Hat das Nazi-Regime dieses Lager dazu benutzt, Regimegegner und Juden zu vernichten?

Dieses Lager diente nicht nur als Gefangenenlager, sondern auch als Ausbildungslager für SS-Offiziere in Bezug auf Vernichtung und Lagerorganisation. Die Nazi-Offiziere wurden hier darin geschult, wie Gefangene unter Kontrolle gehalten, diszipliniert, gefoltert und vernichtet werden können, das Gelernte setzten sie dann in anderen Lagern um.

Am Eingang des Lagers sehen wir eine Skizze. Was soll diese Skizze darstellen?

Das Hauptquartier des Kommandanten des Konzentrationslagers wird gezeigt. Die Ausbildungsbereiche der ihm unterstellten SS-Offiziere werden gezeigt, auf der anderen Seite werden die Bereiche gezeigt, in denen sich die Gefangenen befanden. Außerdem führten sie in diesem Lager Experimente durch, die sie selbst als medizinisch bezeichneten.

Was meinen Sie mit medizinischen Experimenten?

Man sollte sich nicht vom Begriff „medizinische Experimente” täuschen lassen, eigentlich handelt es sich eher um militärische Experimente. Sie führten beispielsweise folgende Experimente durch: Wie lange kann ein Mensch in kaltem Wasser aushalten, wann versagt sein Körper und stirbt er? Sie führten diese Experimente durch, um herauszufinden, wie lange deutsche Soldaten aushalten können, wenn deutsche Kampfflugzeuge oder Schiffe in der Nordsee sinken und sie im Wasser sind. Innerhalb wie vieler Stunden muss eingegriffen werden? 

In diesen Experimenten werden verschiedene Kleidungsstücke an diesen Menschen getestet. Sie führen Experimente durch, um herauszufinden, mit welcher Kleidung ein Soldat länger in diesem kalten Wasser aushalten kann.

Führt die Kurdische Gemeinschaft in Deutschland (KGD) jedes Jahr eine solche Veranstaltung durch? Können Sie uns etwas über den Zweck dieser Veranstaltung erzählen? Gibt es außer Ihnen noch andere Organisationen, die ähnliche Veranstaltungen durchführen?

Als Kurdische Gemeinde Deutschland (KGD) führen wir eine solche Veranstaltung dieses Jahr zum ersten Mal durch. Wir möchten die Menschen, die aus Kurdistan nach Deutschland ausgewandert sind, dazu ermutigen, Deutschland nicht nur als ein Land zu sehen, in das sie ausgewandert sind, sondern auch als ihre neue Heimat anerkennen Sie sollen dazu ermuntert werde, alle Details über das Land, in dem sie leben zu lernen, um sich besser integrieren zu können.

Wir sind der Meinung, dass man die Geschichte Deutschlands gut kennen muss, um das heutige Deutschland, das sich in jeder Hinsicht nach weltweiten Standards entwickelt hat, verstehen zu können.

Geschichte besteht nicht nur aus billigen, simplen und falschen Heldentaten, die man künftigen Generationen vorgaukelt, sondern auch aus der wahrheitsgemäßen Darstellung, der Auseinandersetzung, der Entschuldigung und der Bitte um Vergebung für begangene Fehler, Verbrechen und sogar Gräueltaten.

Wir, die Verantwortlichen und Mitarbeiter der Kurdischen Gemeinde in Deutschland (KGD), haben in diesem Bewusstsein eine solche Initiative ins Leben gerufen, da wir davon überzeugt sind, dass eine solche Organisation auch für die in Deutschland lebenden Kurden von Nutzen sein wird. Das Interesse ist größer als erwartet, was uns sehr freut. Wir möchten, dass die Kurden die jüngste Geschichte Deutschlands genau untersuchen und daraus Lehren ziehen. Es gibt ohnehin viele Parallelen zwischen der Geschichte Deutschlands und der der Kurden. Das Leben unter diktatorischen, unterdrückerischen und tyrannischen Regimes, Massenmorde usw. – in vielen Bereichen haben die deutsche und die kurdische Gesellschaft historisch gesehen ähnliche Leiden erfahren.

Erwägt die Kurdische Gemeinschaft in Deutschland, ähnliche Fahrten in andere Konzentrations- und Vernichtungslager anzubieten?

Das wird es zweifellos geben. Insbesondere nachdem wir das Interesse an solchen Veranstaltungen gesehen haben, werden wir unsere Aktivitäten in dieser Richtung verstärken. Wir arbeiten daran, neue Projekte zu diesem Thema zu entwickeln. Insbesondere wollen wir Angebote erstellen, um dem kurdischen Volk die unmenschlichen Praktiken, den Völkermord und die Massaker, die das jüdische Volk in der jüngeren Vergangenheit erlebt hat, näherzubringen und die Parallelen zu unseren eigenen Erfahrungen als Volk objektiver aufzuzeigen.

Interview: Ruken Hatun Turhallı