KGD-Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 2021 – Bündnis 90/Die Grünen
In wenigen Wochen ist Bundestagswahl. Die Kurdische Gemeinde Deutschland hat, unter Mitwirkung des Beiratsvorsitzenden Dr. h.c. Herbert Schmalstieg, Wahlprüfsteine erarbeitet und den Parteien mit der Bitte um Beantwortung zugesandt.
Die Wahlprüfsteine behandeln Fragen zur Teilhabe von Menschen mit Migrationsbiographie, zur Asylpraxis, aber auch zur Anerkennung der kurdischen Identität und zum antikurdischen Rassismus. Darüber hinaus wurde die Position der Parteien zur Bedrohung durch den politischen Islam oder zu rassistischen Vereinigungen wie den Grauen Wölfe abgefragt. Angesprochen waren alle im Deutschen Bundestag vertretenen demokratischen Parteien.
Wir veröffentlichen hier, in der Reihenfolge ihres Empfangs, die Antworten der Parteien und beginnen mit den Antworten von Bündnis 90/Die Grünen.
Bilden Sie sich selbst eine Meinung! Machen Sie von Ihrem demokratischen Recht Gebrauch und gehen Sie wählen!
Antworten auf die Wahlprüfsteine von Kurdische Gemeinde Deutschland e.V. anlässlich der Bundestagswahl 2021
1) Wie gedenken Sie die politische und soziale Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund hierzulande zu erhöhen? Wie würden Sie dazu beitragen, den Anteil der Menschen mit Migrationsbiografie in Parteiämtern und unter den Mandatsträgerinnen und -trägern Ihrer Partei zu erhöhen?
Um Teilhabe von Menschen mit Migrationsbiografie zu stärken, wollen wir GRÜNE einen Partizipationsrat, ähnlich dem Deutschen Ethikrat, als ein gesetzlich verankertes und unabhängiges Gremium einführen, mit Vertreter*innen aus der (post)migrantischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Forschung, die die unterschiedlichen Dimensionen von Vielfalt abbilden. Für mehr Repräsentanz und Teilhabe werden wir ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz vorlegen und das Bundesgremienbesetzungsgesetz reformieren. Staatliches Handeln soll auf unsere vielfältige Gesellschaft ausgerichtet sein und Gleichberechtigung sicherstellen. Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss die Möglichkeit haben, an Wahlen, Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen, in einem ersten Schritt wollen wir das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen. Zur Förderung der Teilhabe in unserer eigenen Partei haben wir von BÜDNIS 90/DIE GRÜNEN 2020 ein Vielfaltsstatut beschlossen.
2) Sehen Sie die institutionelle Anerkennung der kurdischen Identität, etwa durch den Gebrauch der kurdischen Sprache in behördlichen Publikationen, einen bundesweiten herkunftssprachlichen Unterricht Kurdisch oder die statistische Erfassung als Kurdinnen und Kurden, als realistische Perspektive?
Übersetzungen von Behördenpublikationen in die Hauptherkunftssprachen von Migrant*innen und Geflüchteten in Deutschland sind für uns sehr wichtig. Dazu gehört auch die kurdische Sprache. Gute Erfahrungen und höhere Akzeptanz mit übersetzten Merkblättern/Informationen gibt es hier z.B. bei der Aufklärung zur Impfkampagne und der Covid-19-Pandemie durch Übersetzungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
3) Deutschkurdinnen und -kurden sind in Deutschland von Rassismen unterschiedlicher Couleur und Herkunft betroffen, sowohl vom Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft als auch vom migrantischen Rassismus. Wie gedenken Sie diese unterschiedlichen Ausprägungen des Rassismus zu bekämpfen?
Wir GRÜNE wollen den Schutz vor und die Beseitigung von Diskriminierungen, strukturellem und institutionellem Rassismus mit einem staatlichen Gewährleistungsanspruch in der Verfassung verankern, ergänzend zur überfälligen Ersetzung des Begriffs „Rasse“. Die antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) soll zur obersten Bundesbehörde aufgewertet werden – mit mehr Personal, Budget und Kompetenzen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wollen wir zu einem echten Bundesantidiskriminierungsgesetz weiterentwickeln. Wir wollen erreichen, dass es Schutzlücken endlich schließt, Klagen gegen Diskriminierung für Betroffene vereinfacht und ein umfassendes Verbandsklagerecht einschließt, damit gegen Diskriminierung strukturell und nachhaltig vorgegangen werden kann. Das Netz zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen soll flächendeckend ausgebaut und so finanziert werden, dass diese planungssicher und kontinuierlich ihrer Aufgabe nachkommen können.
4) Die „Grauen Wölfe“ stehen als größte rechtsextremistische Organisation seit einiger Zeit im medialen Fokus – auch Kurdinnen und Kurden gehören zu ihren Opfern. Wie soll mit der Organisation umgegangen werden, nachdem der Deutsche Bundestag in diesem Jahr einen Verbotsprüfantrag beschlossen hat?
Auch in Deutschland und anderen Ländern Europas verbreiten die „Grauen Wölfe“ seit Jahrzehnten rassistisches, antisemitisches und anderes menschenverachtendes Gedankengut und verüben rechtsextreme Terroranschläge und Morde auf türkeistämmige Oppositionelle und Minderheiten. Dies werden wir nicht hinnehmen. Wir GRÜNE haben daher die Bundesregierung in einem interfraktionellen Antrag aufgefordert, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Einfluss der „Grauen Wölfe“ in Europa endlich zurückzudrängen. Um dies zu erreichen, fordern wir mit unserem Antrag, dass die Bundesregierung ein umfangreiches Maßnahmenpaket gegen die „Grauen Wölfe“ umsetzt. Leider ist seitdem von Seiten der Bundesregierung nichts geschehen. Wir hätten die Verbindungen der „Grauen Wölfe“ zur türkischen Regierung in diesem interfraktionellen Antrag gerne klarer benannt, aber das war mit den Koalitionsfraktionen nicht zu machen.
5) Die Türkei ruft hier lebende türkischstämmige Bürger*innen zur Denunziation kritischer Stimmen auf. Der Geheimdienst MIT hat ein bundesweites Netzwerk aufgebaut. Daher werden viele kurdischstämmige Menschen bei Reisen in die Türkei verhaftet. Was werden Sie gegen diese Einschüchterungsversuche tun?
Wir GRÜNE dulden keine Angriffe oder Einschüchterungsversuche gegenüber Gegnerinnen und Gegnern des türkischen Ultranationalismus hierzulande. In Deutschland lebende kurdischstämmige Menschen müssen vor der Einflussnahme des türkischen Geheimdienstes MIT aktiv geschützt werden. Unser Rechtsstaat muss auch insofern ein wehrhafter sein. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat hier in Deutschland keinen Platz. Wir stehen für eine offene Gesellschaft und bekennen uns zu Vielfalt, zu Religionsfreiheit in unserem Land. Außenpolitisch muss der Türkei unmissverständlich klar gemacht werden, dass die Einschüchterungsversuche und insgesamt das Wirken des MIT in Deutschland eine große Bürde für die bilateralen Beziehungen sind. Sowohl in den bilateralen Gesprächen als auch in den EU-Formaten mit der Türkei muss diese Problematik deutlich zur Sprache gebracht werden.
6) Welche Gefahren gehen vom radikalen politischen Islam für unsere Demokratie aus? Was können Zivilgesellschaft sowie Regierung dagegen unternehmen? In diesem Zusammenhang interessieren uns Ihre Vorstellungen zum Umgang mit der DiTiB, dem Zentralrat der Muslime sowie der Vereinigung Milli Görüs.
Gewaltbereite Islamist*innen sind eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und die Menschen in Deutschland. Darauf weisen wir GRÜNE seit langem hin. Es braucht neben einer Reform der Sicherheitsarchitektur die Priorisierung von Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen. Wir werden Aussteigerprogramme für Menschen aus der islamistischen Szene ausbauen und zivilgesellschaftlicher Träger der Prävention besser unterstützen. Zudem kann die Etablierung von islamisch-theologischen und praxisorientierten Aus- und Weiterbildungsprogrammen für Imame und islamische Religionsbedienstete den Kampf gegen die Ideologie des Islamismus fördern. Muslimisches Leben ist vielfältig. Wir unterstützen Staatsverträge mit islamischen Religionsgemeinschaften, die in keiner strukturellen Abhängigkeit zu einem Staat, einer Partei oder
politischen Bewegung und deren oder dessen jeweiliger Regierungspolitik stehen und sich religiös selbst bestimmen. Dachverbände dürfen keine verfassungsfeindlichen Verbände umfassen.
7) Wie kann man die Fluchtursachen von Menschen, insbesondere in den kurdischen Gebieten, sowohl politisch als auch humanitär bekämpfen? Wie lässt sich die Region, aus der Kurdinnen und Kurden stammen, auch durch deutsche und europäische Außenpolitik dauerhaft und demokratisch stärken?
Grundsätzlich rücken wir die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung und unsere dahingehende Verantwortung ins Zentrum unserer Politik. Dazu gehören für uns eine starke zivile Krisenprävention, restriktive Rüstungsexporte und ein gerechtes Handelssystem. Wir GRÜNE fordern insbesondere von der türkischen Regierung die Rückkehr zu einem politischen Dialog mit den türkischen Kurd*innen. Dies beinhaltet auch den Dialog mit der PKK, mit der die türkische Regierung ja bis 2015 in einem sogenannten “Lösungsprozess” verhandelt hat. Sicherheit und Frieden kann es in der Region für die Türkei nicht ohne eine politische Verständigung mit den Kurd*innen in der Türkei sowie den Kurd*innen in Syrien und im Nord-Irak geben. Die Kriminalisierung der Partei HDP in der Türkei muss beendet werden.
8) Die Asylpraxis in Deutschland benachteiligt die kurdischen Asylbewerberinnen und -bewerber. Die Zahlen des BAMF zeigen, dass die Schutzquote von Türkinnen und Türken 2019 etwa bei 74,6 Prozent lag, bei Kurdinnen und Kurden hingegen nur bei 14,5 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Schieflage?
Die Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu einzelnen Herkunftsländern beschäftigen uns schon lange. Wir GRÜNE wollen, dass Asylverfahren in Deutschland rechtssicher, fair und transparent gestaltet sind und eine Entscheidung in angemessener Zeit erfolgt. Dafür muss die Identifizierung besonderer Schutzbedarfe vor der Anhörung erfolgen. Insbesondere die Berücksichtigung erlittener geschlechtsspezifischer Verfolgung und die dazugehörige Beratung im Asylverfahren sind zu gewährleisten. Wir wollen dafür sorgen, dass es zügig zu einer Entscheidung über den Aufenthaltstitel kommt, damit Menschen früh verbindliche Gewissheit haben. Dazu gehört eine ausreichende personelle Ausstattung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie ein funktionierendes Qualitätsmanagement. Eine nichtstaatliche unabhängige Asylverfahrensberatung für alle Asylsuchenden, von der Ankunft bis zum Abschluss des Asylverfahrens, wollen wir sicherstellen.