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Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland    Gießen, 03.07.2014
Frau Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
10557 Berlin


Offener Brief anlässlich der kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen im Nordirak  

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unterstützt die Unabhängigkeitsbestrebungen im autonomen Kurdistan (Nordirak) und hat am vergangenen Samstag in einer Grundsatzrede zur Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates aufgerufen. „Wir sollten die Bestrebungen der Kurden unterstützen“ sagte er. Die Kurden seien eine Nation von Kämpfern, die sich mit ihrem politischen Engagement der Unabhängigkeit würdig erwiesen hätten. Angesichts der dramatischen Entwicklungen im Irak und der Offensive der Terrorgruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) sieht Netanjahu in den Kurden auch potentielle Partner im Kampf gegen den Terror. Es sei an der Zeit für eine „erweiterte regionale Zusammenarbeit“, so der israelische Ministerpräsident weiter. Der israelische Außenminister Lieberman bezeichnet den Zerfall des Iraks als eine „ausgemachte Sache“. Der Tag sei gekommen, an dem „eine neue diplomatisch-politische Struktur im Mittleren Osten“ entstehe, darum unterstütze Israel die Bildung eines unabhängigen Kurdistans im Nordirak. Der israelische Ministerpräsident und sein Außenminister zeigen angesichts der dramatischen Entwicklungen, die die gesamte Region in einen Strudel von religiösem Fanatismus und Nationalismus hineinzuziehen droht, den Mut und Weitblick, der heute für den Nahen Osten notwendig ist. Nur mit den Kurden und einem unabhängigen kurdischen Staat ist eine Stabilität des Nahen Ostens möglich. Die Kurdische Autonomieregion ist heute die prosperierendste und sicherste Region im Irak. Dort, wo Kurden selbstbestimmt leben, entwickelt sich gegen den Trend im gesamten Raum eine Demokratie.

Auch andere Staaten – beispielsweise Frankreich und Jordanien – signalisierten Unterstützung für die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Das Nachbarland Türkei ist der kurdischen Forderung ebenfalls nicht abgeneigt. Im föderalen Irak hat sich Kurdistan in den letzten zehn Jahren gut entwickelt. Inzwischen ist das Land ein Stabilitätsfaktor für die Region. Die kurdischen Einheiten haben einen wichtigen Anteil daran, dass in der kurdischen Region im Irak, gemessen an den Terroranschlägen im restlichen Land, relative Stabilität und Wohlstand herrschen. Seit Jahrzehnten werden den Kurden in den Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien ihre Rechte verwehrt. Die Kurden im Irak haben nach dem Einmarsch der USA und der Alliierten gegen Saddam Hussein eine weitgehende Autonomie mit einer demokratisch verfassten Selbstverwaltung aufgebaut, die sich heute als Insel der Sicherheit und Zufluchtsort hunderttausender Araber, Turkmenen und Christen erweist.

Hochverehrte Frau Bundeskanzlerin,

Sie stehen in gutem Kontakt zum kurdischen Präsidenten Barzani. Dass Ihnen die Beziehungen zu Kurdistan wichtig sind und Sie die Region wertschätzen, zeigen das in Erbil im Jahr 2009 durch Außenminister Steinmeier eröffnete Deutsche Generalkonsulat, ein Informationsbüro für die Deutsche Wirtschaft und das Goethe-Institut in Erbil.  Mit der Umwandlung der seit dem Jahre 2008 bestehenden Außenstelle der Botschaft in Bagdad in ein reguläres Generalkonsulat weitete die Bundesregierung ihre konsularische Präsenz in Kurdistan aus. Inzwischen hat eine Vielzahl deutscher Hochschulen Partnerschafen mit Universitäten in Kurdistan beschlossen; deren Zusammenarbeit entwickelt sich sehr gut.

Wir nehmen die aktuellen Entwicklungen im Irak mit wachsender Sorge zur Kenntnis. Seit einigen Wochen stürzt die Terrorgruppe ISIS den Irak ins Chaos. Die Terrorgruppe hat nach der Eroberung der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul am 9. Juni 2014 eine Offensive gegen die irakische Regierung in Bagdad begonnen.

Die radikalen Extremisten brachten seitdem Teile des Nordiraks unter ihre Kontrolle. Ihr Ziel war stets die Gründung eines grenzübergreifenden islamischen Staates in der Region; inzwischen wurde in den besetzten Gebieten Syriens und Iraks ein „Kalifat“ ausgerufen. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Meistens in die sicheren Gebiete Kurdistans.

In das Machtvakuum sind kurdische Truppen vorgestoßen. Die kurdische Armee Peshmerga steht unter dem Befehl der kurdischen Regierung in der Regionalhauptstadt Erbil. Die Peshmerga sind wesentlich besser trainiert, ausgerüstet, motiviert und disziplinierter als die irakischen Soldaten und haben jetzt weite Teile der Provinz Nineveh, deren Hauptstadt Mossul ist, Teile der Provinz Diyala an der iranischen Grenze und vor allem die komplette Provinz Kirkuk kontrolliert, um diese Gebiete vor den Vormarsch der Terrorgruppen zu beschützen.

Aufgrund der guten Sicherheitslage ist die Kurdenregion seit vielen Jahren Zufluchtsort für Hunderttausende Flüchtlinge – Christen aus Basra im Süden des Iraks, aus Bagdad und Mossul, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge und jetzt Menschen, die vor der neu aufgeflammten Gewalt im Irak fliehen.

Angesichts der Gebietseroberungen, die die ISIS in den vergangenen Tagen gegen die irakische Armee erzielen konnte, haben die Kurden die Besetzung ihrer Region verhindert und dadurch weitere Massaker an der Zivilbevölkerung abgewendet.

Im Hinblick auf den blutigen Konflikt im Irak hat sich auch die Türkei auf einen möglichen Zerfall des Nachbarstaates vorbereitet. Der Irak sei schon jetzt „praktisch in drei Teile gespalten“, sagte Hüseyin Celik, der Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Für den Fall, dass der Irak als geeinter Staat von Schiiten, Sunniten und Kurden nicht überlebe, sicherte Celik den nordirakischen Kurden vor wenigen Tagen das Recht auf Selbstbestimmung zu.

Die Regierung in Bagdad unter Nuri al-Maliki hat leider die im Artikel 140 der irakischen Verfassung festgelegte Vereinbarung, bis Mitte 2007 ein Referendum um die Zukunft der kurdischen Stadt Kirkuk und weiteren historisch kurdisch besiedelten Gebieten abzuhalten, nicht eingehalten, was zu Spannungen zwischen Bagdad und Erbil führte. Auch die Türkei und Israel haben mittlerweile erkannt, dass die einseitig pro-schiitische Politik von Ministerpräsident Nuri al-Maliki den Irak „an den Rande des Zusammenbruchs“ geführt hat. Die Unabhängigkeit und Spaltung der Kurden vom Irak ist nur noch eine Frage der Zeit, denn der Irak ist ein vom Zerfall bedrohter Staat. In einer umkämpften und bedrohten Region überzeugen die Kurden mit politischer Stabilität und Demokratie. Sie sollten nicht alleine gelassen werden. Sie verdienen Zuspruch.
Auch die Europäische Union sollte ihre bisherige Haltung zu den Kurdinnen und Kurden und Kurdistan überdenken, denn man kann ihnen nicht länger zumuten, was man für sich nicht haben möchte: In defekten Demokratien, fanatischen Gottesstaaten oder in Diktaturen leben zu müssen.

Wir wünschen uns, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes respektieren und anerkennen. Für über eine Million Deutsch-Kurden ist die Bundesrepublik mittlerweile die neue Heimat. Wir sind glücklich und dankbar, dass die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten hunderttausenden Kurdinnen und Kurden aufgenommen und ihnen eine neue Heimat gegeben hat. Wir wissen das zu schätzen. Deutschland war und ist eine große Chance für die meisten hier lebenden Kurdinnen und Kurden. Sie haben sich für Deutschland entschieden und  mehrheitlich einbürgern lassen. Sie sind gut integriert und identifizieren sich mit der Bundesrepublik Deutschland. Die hier lebenden Kurdinnen und Kurden sind eine verlässliche Brücke zwischen Deutschland und Kurdistan und sorgen für eine starke Partnerschaft zwischen beiden Ländern. Es ist an der Zeit, diese Partnerschaft mit der Anerkennung eines demokratischen Kurdistans zu krönen. Bitte unterstützen Sie die Sehnsucht nach Demokratie, den Freiheitsdrang und die Wiedervereinigung des kurdischen Volkes.

Wir würden es herzlich begrüßen, wenn Sie sich öffentlich der Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Staat anschließen würden.

Mit freundlichen Grüßen

Ali Ertan Toprak
Vorsitzender

Mehmet Tanriverdi
stellvertretender Vorsitzender