Südkurdistan unter Beschuss
Raze Baziani
Im Dorf Parakh, nahe der kurdischen Stadt Zakho wurden am 21. Juli durch Artilleriebeschuss neun Zivilist:innen, darunter auch Kinder getötet und dutzende verletzt. Sie waren Teil einer größeren Reisegruppe, die in Südkurdistan Urlaub machen wollten. Der Vorfall reiht sich ein in eine Reihe von fortlaufenden militärischen Angriffen, dem die regionale Bevölkerung schutzlos ausgesetzt steht. Anders als zuvor reagierte die zentralirakische Regierung sehr deutlich, selbst eine Dringlichkeitssitzung beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wurde einberufen. Was ist diesmal anders?
Der geopolitische Kontext
Mutmaßliche Verantwortliche ist laut kurdischen und zentralirakischen Angaben die Türkei, die bereits seit Jahren regelmäßig Luftangriffe auf das Gebiet an der Grenze zur Türkei verübt und Kommandotruppen zur Unterstützung ihrer Offensiven unter anderem auch im Irak hat. Das türkische Außenministerium dementierte die Vorwürfe allerdings. In einem offiziellen Statement erklärte es, dass es betrübt über die Opfer des Anschlags sei und fügte hinzu, dass die Türkei bei ihren sogenannten „Anti-Terror-Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) darauf achte, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden und historische und kulturelle Stätten nicht zu beschädigen.“ Weiterhin erklärte Ankara sich dazu bereit, „jeden Schritt zu unternehmen, damit die Wahrheit ans Licht kommt“, und fügte hinzu, dass ihre restlichen Militäroperationen im Einklang mit internationalem Recht stünden. Das Statement überrascht. Denn obgleich auch bei vorherigen Angriffen der Türkei viele zivile Opfer um ihr Leben kamen, blieben derartige Beileidsbekundungen bisher aus.
Die Verantwortung der Türkei für den Angriff steht aus Sicht der kurdischen Regionalverwaltung (KRG) als auch aus dem Zentralirak und vielen Medien aus dem arabischsprachigen Raum ohne Frage. Dabei beruft sich Bagdad auf den Fund von Artilleriegranaten die auf den Einsatz einer türkischen Panzer-Haubitze hindeuten sollen. Ferner spricht die Art und der Ort des Angriffs an der direkten Grenze zur Türkei für eine türkische Offensive. Den Zurückweisungen der Türkei entgegnete der irakische Außenminister, dass in Zakho keine Zugehörigen der PKK operierten. Tatsächlich wird Zakho de jure und de facto von der KRG verwaltet. Bekannte Stützpunkte der PKK gibt es dort nicht, Angriffe auf türkisches Gebiet wurden aus den Grenzgebieten ebenfalls nicht verzeichnet.
Insgesamt reagierte dieses Mal auch die irakische Zentralregierung ungewohnt deutlich und in weiten Teilen des Iraks gab es Proteste in der arabisch-irakischen Zivilgesellschaft. Nachdem sich bereits am Ereignistag des Anschlags der irakische Premierminister Mustafa Al-Kadhimi einschaltete, wurde eine offizielle Kommission beauftragt die Umstände des Anschlags zu untersuchen. Anschließend reichte der Irak bei den Vereinten Nationen sogar Beschwerde gegen die Türkei ein und der Sicherheitsrat traf sich bei einer Dringlichkeitssitzung zu dem Vorfall. Außerdem wurde der Tag an dem sich der Anschlag ereignete im Irak zu einem Nationaltrauertag bestimmt und am Sonntag, den 24. Juli beschloss das zentralirakische Parlament die Opfer zu „Märtyer:innen“ zu erklären. Das bedeutet nach geltendem Recht nun, dass den Hinterbliebenen Ansprüche auf monatliche Entschädigungszahlungen zustehen. Sie erhalten zudem eine Einmalzahlung in Höhe von fünf Millionen irakischen Dinar pro getöteter Person und zwei Millionen Dinar für alle Hinterbliebenen einzeln. Derartige Entschädigungen gab es für Kurd:innen bisher nicht.
Die Macht des Ressentimentens
Es zeigt sich: Die zentralirakische Regierung ist handlungsfähig, wenn sie handeln möchte. Doch die ethnische Identität spielt im Irak nicht nur politisch eine Rolle, sondern auch in der Beurteilung über die Wertigkeit von Menschenleben. Zahlreiche kurdische Stimmen zeigten sich enttäuscht, denn politische Reaktionen dieser Art blieben bisher trotz zahlreicher Angriffe der Türkei aus. Solidaritätsbekundungen aus der arabisch-irakischen Zivilgesellschaft gab es bisher nicht. Gleichwohl wurde der Opfer des aktuellen Anschlags von kurdischen Politiker:innen in einer offiziellen Zeremonie gedacht.
Dabei sind Reaktionen des Iraks auf die türkischen Angriffe entscheidend, insbesondere da dem Staat als Souverän alleine die Möglichkeit zusteht sich in der internationalen Politik und bei den Vereinten Nationen auf sein Recht auf territoriale Integrität zu berufen. Die Reaktionen sind auch notwendig, da Staaten gegenüber ihrer Bevölkerung eine Schutzpflicht haben – eine Pflicht, die der Zentralirak regelmäßig versäumt, wenn es um die kurdische Bevölkerung im Land geht. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Irak zu Beginn der 1980er Jahre unter der Diktatur Saddam Husseins Abkommen mit Ankara traf, die der Türkei gestatten die irakischen Grenzen im Norden des Landes bis zu fünf Kilometer im Falle der Verfolgung von Milizen und anderen „feindlichen“ politischen Gruppen zu überschreiten. Zivile Ziele sollten davon ausgenommen bleiben. Die letzte Erweiterung der Grenzüberschreitungsabkommen erfolgte unter Iraks letztem Premier Haider al-Abadi und gestattet Operationen auf bis zu dreißig Kilometer in das Land hinein.
Dass der Zentralirak dieses Mal den Artilleriebeschuss bei den Vereinten Nationen anklagt, könnte nun darauf zurückzuführen sein, dass bei dem Angriff lediglich Zivilist:innen getroffen wurden und dies einen eindeutigen Vertragsbruch darstellt. Doch dies war schon viele Male zuvor der Fall. Außerdem reichten die türkischen Angriffe in der Vergangenheit teilweise weit über die dreißig Kilometer Marke hinaus. Der Unterschied bei dem aktuellen Anschlag ist, dass keine Menschen kurdischer Herkunft umkamen, sondern alle Opfer irakische Araber:innen waren. Betrachtet man die diesmal bekundete Anteilnahme der Türkei, mag auch das eine Rolle spielen.
Der unterschiedliche Umgang mit den arabisch-irakischen gegenüber den zahlenmäßig vielfach höheren kurdischen Opfern der anhaltenden türkischen Militäroperationen ist rückführbar auf eine tiefergehende Strategie der Kriminalisierung des kurdischen Volkes. Kurdische Identität wird hierbei unterschiedslos verknüpft mit Militarismus und das kurdische Volk willkürlich zu einer politisch homogenen Gruppe stigmatisiert. Ein friedliches Sein der Kurd:innen wird dieser Logik nach abgesprochen, um jegliche politische Forderung, wie beispielsweise die Einhaltung von Menschenrechten oder das Beklagen von Völkerrechtsverletzungen zu delegitimieren. Dieses durch antikurdischen Rassismus geschürte Bild wird in der Politik zu einem waffenfähigen Narrativ befördert, das auf lange Sicht dazu dient, politische Gewalt gegenüber Kurd:innen jederzeit rechtfertigen zu können. Auch im Irak selbst sehen sich Kurd:innen einer fortwährenden Ungleichbehandlung gegenüber arabischen Iraker:innen ausgesetzt. Der zu Saddams Zeiten strukturell institutionalisierte Rassismus wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Vielmehr ist ein hierarchisches Selbstverständnis arabischer Iraker:innen nicht selten anzutreffen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass das Leben kurdischer Opfer wenig Beachtung findet und in der internationalen Politik als ein zu billigendes Opfer von vermeintlich legitimen Angriffen der Türkei hingenommen wird.
Destabilisierung der stabilsten Region des Iraks
Doch was von außen aussieht wie der „Kampf gegen den Terrorismus“ ist Teil einer Destabilisierungsstrategie der Türkei unter dem Deckmantel des präventiven Selbstverteidigungsrechts. Besonders paradox daran ist, dass die Türkei sich selbst ein Recht auf Selbstverteidigung einräumt, während es Gegenspieler:innen jenes Recht sogar dann abspricht, wenn sie einem Angriffskrieg erleben. Kurdische Angriffe auf türkisches Staatsgebiet gibt es aus Südkurdistan nicht. Das Handeln der Türkei zeichnet ein Kalkül ab, wonach Lebensräume unbewohnbar gemacht werden sollen, entweder durch militärische Angriffe und Unterstützung von terroristischen Milizen oder durch Zerstörung der Natur. Das Roden von Wäldern und das Zurückhalten des Wassers vom Euphrat durch Staudämme betten sich ein in eine Strategie der demographischen Veränderung und wirken sich gepaart mit Dürre und Ernteausfällen stark auf die kurdische Bevölkerung aus.
Unterstützt wird die Destabilisierung nicht zuletzt mit Behauptungen, die KRG trüge selbst die Verantwortung für die türkischen Angriffe. Dabei müsste die Maxime friedlicher Koexistenz immer diejenige sein, dass es keine Rechtfertigung für insbesondere zivile, menschliche Opfer geben kann, dass es keine Rechtfertigung für die türkischen Angriffe geben kann. Zumal bei dieser Behauptung zwei Parteien mit asymmetrischen Vorbedingungen verglichen werden: der türkische Staat als NATO-Mitglied im Besitz von diversen Waffensystemen gegenüber einer Entität, die in einem Kriegsumfeld ohne politische Unterstützung aus eigener Kraft staatliche Strukturen schaffen musste und seit jeher ohne Erfolg um Anerkennung um deren Erhalt ringt.
Äußerungen wie diese werden allein auf konstruierte Medienbildern reduziert und lassen sich faktisch nicht belegen. Dabei ist gerade Ankara dafür bekannt, politische Treffen und dabei entstandene Bilder für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Nicht selten geschehen die türkischen Angriffe zu Zeitpunkten, in denen die Weltpolitik von anderen Themen eingenommen wird oder aber wenige Tage nachdem es Treffen der Türkei mit beispielsweise kurdischen Politiker:innen gab. Sich als Türkei-kritisch bezeichnende Stimmen entscheiden sich in solchen Fällen dann der Narrative der türkischen Berichterstattung zu folgen, um Kritik an der KRG ausüben zu können. Ein kurdischer Sündenbock, der verkauft sich schließlich auch inner-kurdisch gut. Es wird jedoch ausgeblendet, dass die Türkei solche Bilder gerade dazu ausnutzt, den politischen Konflikt unter den Kurd:innen weiter zu einer Krise zu befeuern. Dass Ankara dann zu glauben sein soll, sollte zumindest stark bezweifelt werden.
Die Verlagerung der Verantwortung für türkische Angriffe auf die KRG rührt nicht selten aus dem Drang nach moralischer Eindeutigkeit her, dem die Kritiker:innen selbst nicht gerecht werden. Gleichzeitig werden dadurch Schwarz-Weiß-Bilder gezeichnet, welche die multidimensionale Bedrohungslage der kurdischen Autonomieregion nicht alleine erklären können. Vielmehr spielt man damit Ankaras Ziel zu, die demokratisch gewählte KRG zu schwächen und ihre Legitimität international herabzusetzen. Nicht selten wurde diese Narrative auch von populistischen Bewegungen genutzt, um ein Zerwürfnis innerhalb der kurdischen Zivilbevölkerung zu befördern und geschaffene, staatsähnliche Strukturen wieder abzubauen. Und nicht selten nutzt der Iran mit seiner Proxy-Politik diese Momente, für weitere Mobilisierung um sich auf ihre Weise an der Destabilisierung zu beteiligen. Die KRG nun als Verantwortliche zu kennzeichnen blendet aus, dass die Angriffe in ihrer Art, dem Handlungsort und dem politischen Diskurs in der Türkei folgend rückführbar auf Ankara sind. Gleichzeitig werden mit dieser Narrative die Bemühungen der KRG um ein friedliches Zusammenleben diverser ethnischer und religiöser Gruppen in Südkurdistan torpediert. Die KRG wird nicht nur international nicht als souverän anerkannt, sondern ist auch der Missbilligung der umliegenden Staaten ausgesetzt und wird durch fortwährende Militäroffensiven der Türkei und Anschläge verschiedener militant-islamistischer Gruppierungen gefährdet. Und doch gewährt die KRG seit dem Sturz Saddam Husseins als einzige im Irak den Menschen unterschiedlosen Schutz und einen weitestgehend friedlichen Lebensraum. An dieser Stelle ist an die hunderttausenden Menschen yezidischen oder christlichen Glaubens zu erinnern, die vor dem Genozid des IS nur in der von der KRG verwalteten Region Schutz fanden und im restlichen Teil des Iraks weiterer politischer Gewalt ausgesetzt sind. Der nun zuletzt angegriffene Freizeitort ist nur wenige Kilometer entfernt von Flüchtlingsunterkünften von vor dem IS vertriebenen Menschen. Werden Anschläge dieser Art weitergeführt und Lebensräume in Südkurdistan kriegerisch zerstört, bietet dies radikalen Gruppierungen wie dem IS weiteren Nährboden für ein (Wieder-)Erstarken.
Anspruch und Realität
Der Anschlag auf die Ferienanlage in Parakh macht deutlich, wie unterschiedlos die Türkei operiert und gleichzeitig wie unterschiedlich Menschenleben im Irak bewertet werden. Das politische und das faktische Schicksal der Kurd:innen bleibt fremdbestimmt. Doch wenn diese Aufgabe lediglich die Türkei und der Irak in die Hand nehmen, leidet unweigerlich die kurdische Bevölkerung darunter, deren Leben seit jeher gekennzeichnet ist von geo-politischen Machtkämpfen und kriegerischer Gewalt. Es bleibt abzuwarten, ob das Einschreiten der zentralirakischen Regierung nun zu einem Rückgang der Angriffe auf die kurdischen Gebiete führt. Eine Abhängigkeit von den zentralirakischen Entscheidungen könnte allerdings zur Fragilität der Region beitragen. Denn solange den Kurd:innen die staatliche Souveränität nicht zugesprochen wird, wird es ihnen nicht möglich sein, künftige Brüche des internationalen Rechts selbst anzuklagen. Vielmehr müssen sie darauf hoffen, dass der Zentralirak reagiert, was bisher nicht der Fall war. Die türkischen Angriffe werden durch die internationale Politik außerdem mindestens konkludent dadurch gebilligt, dass sie keine Konsequenzen nach sich ziehen und die Türkei als Verantwortliche nicht einmal deutlich benannt wird. Dabei sind die Reaktionen der Weltgemeinschaft gerade jetzt besonders entscheidend. Sie steht angesichts der sich ändernden politischen Ordnung durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine vor der Entscheidung, sich in ein weiteres asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis zur Türkei zu bewegen und Menschenrechtsverletzungen hinzunehmen. Oder, systemische Ungleichbehandlungen von Menschen zu benennen und Konsequenzen für militärisches Handeln festzulegen. Zumindest das ist eine völkerrechtliche, wertegeleitete Politik sich selbst schuldig. Wie viele Menschenleben wären schließlich geschützt worden, hätte es bereits in der Vergangenheit so deutliche Reaktionen wie bei diesem Anschlag gegeben?