Aleviten protestieren in der Türkei (Archivbild)

Aleviten protestieren in der Türkei (Archivbild-AP)


Gemeinsame Erklärung vom 26. Mai 2016


Aufruf für Religionsfreiheit auch für türkische und deutsche Aleviten, für Toleranz gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei sowie gegen Islamismus und Antisemitismus

Wir, die Unterzeichner dieser Erklärung, in Deutschland ansässige Migrantenvereinigungen sowie der Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus, dem auch gegen Antisemitismus und für Religionsfreiheit engagierte Migrantenverbände angehören, rufen Politik und Medien in Deutschland und Europa auf, sich im Interesse einer erfolgreichen Integrationspolitik deutlicher und mehr für die Religionsfreiheit der türkischen und deutschen Aleviten, für Toleranz gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei sowie gegen Islamismus und Antisemitismus zu engagieren.

Aktueller Anlass für unseren Aufruf ist u. a. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. April dieses Jahres (Urt. v. 26. April 2016, Beschwerde-Nr. 62649/10). Die von Erdogan und der AKP immer islamistisch-autoritärer regierte Türkei verletzt nach dem neuen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die schätzungsweise 20 Millionen Aleviten im Land in ihrer Religionsfreiheit. Die Aleviten werden danach ohne objektive und einsichtige Rechtfertigung anders behandelt als die Mehrheit der sunnitischen Muslime, entschieden die Straßburger Richter.Damit hatte eine Beschwerde von mehr als 200 Aleviten Erfolg. Sie kritisieren, dass ihre Gebets- und Versammlungsorte, die sogenannten Cemevis, nicht den Moscheen der sunnitischen Glaubensmehrheit in der Türkei gleichgestellt werden. Den Sunniten bezahlt der Staat den Unterhalt der Gebäude und die Vorbeter dort mit einem Beamtenlohn. Die Aleviten müssen ihre Gebetshäuser und Vorbeter dagegen selbst finanzieren. Eine Initiative, diese Diskriminierung zu ändern, hatte die Erdogan-Regierung zurückgewiesen.

Bei einer Bewertung der türkischen Politik zur Religionsfreiheit und gegenüber Minderheiten sind auch andere Sachverhalte zu berücksichtigen. Der EuropäischeMenschenrechtsgerichtshof in Straßburg hatte bereits früher in einem Verfahren gegen die türkische Erdogan-Regierung die Aleviten in der Türkei als selbständige Religionsgemeinschaft anerkannt. Alevitische Eltern dürfen danach nicht gezwungen werden, ihre Kinder in den staatlichen, sunnitisch orientierten Religionsunterricht zu schicken. Auch diese Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs ist von der Erdogan-Regierung bislang nicht umgesetzt worden. In diesem Erdogan-kritischem Zusammenhang sind ebenso die geplanten Verstaatlichungen von christlichen Kirchengütern im Südosten der Türkei zu beachten.

Ein Veränderungsbedarf in der politischen Beurteilung der Erdogan-Türkei ergibt sich neuerdings auch aus den verfassungsändernden Beschlüssen des türkischen Parlaments vom 20. Mai 2016. Die Beschlüsse, die eine Strafverfolgung gegen gewählte Abgeordnete z. B. wegen des politischen Tatbestands angeblicher Unterstützung der kurdischen Aufstandspartei PKK erheblich erleichtern, sollen offensichtlich über partielle oder allgemeine Neuwahlen den Weg zu einer neuen türkischen Verfassung vorbereiten. Ein verfassungspolitischer Hauptgegner ist dabei die von Kurden und auch von Aleviten unterstützte Partei HDP, die offenbar aus dem Parlament gedrängt werden soll. Das Ziel der angestrebten Verfassungsneuordnung ist die Einführung eines autoritären, immer deutlicher islamistisch orientierten Präsidialsystems, das unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden kann. Die Erdogan-Regierung hat den Bürgerkrieg gegen die Kurden erneut eröffnet.

Teil einer guten Integrationspolitik ist der Kampf für Religionsfreiheit, Toleranz, Minderheiten- und Menschenrechte ebenso wie das deutliche Engagement des deutschen Staats gegen Islamismus und Antisemitismus, insbesondere gegen die verbreitete, auf die Vernichtung von Juden und des Staates Israel gerichtete Völkermordpropaganda etwa von Hamas, ISIS/Daesch, Hisbollah und der Islamischen Republik Iran. Die Islamische Republik Iran zeigt in jüngster Zeit mit ihren gegen Israel orientierten Raketentests, mit der aggressiven Antisemitismusagitation, insbesondere in dem Holocaust-Karikaturenwettbewerb, und mit der Förderung des Hisbollah-Terrors immer wieder ihre völkermörderische Zielsetzung.

In der Innen- und Außenpolitik muss der deutsche Staat nach unserer Auffassung diesen Islamismus-, Antisemitismus- undTerrorerscheinungen deutlicher als bisher entgegentreten und ebenso entschiedener die Religionsfreiheit verteidigen, wie jetzt erneut die Diskriminierung der Aleviten durch die Erdogan-Türkei zeigt, die, wie dargelegt, auch Auswirkungen in Deutschland hat. Zu diesen Zielsetzungen gehört – national und international – auch der Schutz von in der Türkei verfolgten ethnischen und religiösen Minderheiten, wie der Aleviten und Kurden.

Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.

Kurdische Gemeinde Deutschland e.V.

Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus e.V.
(info@koordinierungsrat.org)

Zentralrat der Armenier in Deutschland e.V.

Zentralverband der Assyrischen Vereinigungen in Deutschland und Europäische Sektionen e.V. 


Die 20 Millionen Aleviten in der Türkei sind schlechter gestellt als die Sunniten – das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt. Nun muss Ankara die Lage der Gläubigen verbessern.

Quelle: Spiegel.de

Die Türkei verletzt die Religionsfreiheit der schätzungsweise 20 Millionen Aleviten im Land. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt. Die Minderheit sei ohne objektive und einsichtige Begründung deutlich schlechtergestellt als die Mehrheit der sunnitischen Muslime, entschieden die Richter in Straßburg.

Die Türkei erkennt das Alevitentum nicht als eigenständige Religion an, die Gläubigen gelten offiziell als Muslime. Daher haben Aleviten auch nur wenige Gebetshäuser, die meisten treffen sich zu ihren Gebetssitzungen, den „Cems“, in Wohnungen der Gemeindemitglieder.

Nach Ansicht der Richter herrscht zwischen der Stellung der Aleviten und der der Sunniten ein „eklatantes Ungleichgewicht“. Die Restriktionen durch die Regierung in Ankara hätten in vielerlei Hinsicht Nachteile für die Organisation und Finanzierung des religiösen Lebens. Die Begründung, die der türkische Staat dafür abgebe, sei „weder relevant noch ausreichend in einer demokratischen Gesellschaft“.

Die Aleviten fordern als zweitgrößte türkische Religionsgemeinschaft staatliche Fördermittel und treten dafür ein, dass ihre religiösen Führer Beamtenstatus bekommen. Zudem wollen sie, dass ihre Gebetshäuser und Gottesdienste in der Türkei offiziell anerkannt werden.

Glauben tief in der Gesellschaft verankert

Die türkische Regierung hatte ein entsprechendes Gesuch 2005 zurückgewiesen. Türkische Gerichte bestätigten diese Entscheidung. Sie wurde damit begründet, dass die Aleviten eine religiöse Bewegung innerhalb des Islams seien.

Nach Auffassung der Straßburger Richter verkennt das den religiösen Charakter des alevitischen Glaubens, der tief in der türkischen Geschichte und Gesellschaft verankert sei. Wie sie ihre Religion verstehen, sei Sache der Gläubigen und nicht des Staates.

Aleviten leben nicht nach den fünf Säulen des Islam. So pilgern sie zum Beispiel nicht nach Mekka und fasten auch nicht im Ramadan. Frauen und Männer sind gleichgestellt und beten im selben Raum.Urteil ist unanfechtbar

Das Straßburger Urteil wurde von der Großen Kammer des Gerichtshofs gesprochen und ist damit unanfechtbar. Für die Mitgliedstaaten des Europarats sind die Urteile aus Straßburg bindend. Für die Türkei bedeutet dies, dass sie die beanstandeten Menschenrechtsverstöße in Zukunft vermeiden muss.

Schon im Osmanischen Reich hatte es Pogrome gegen Aleviten gegeben, genauso wie später in der Türkischen Republik. So ereignete sich am 2. Juli 1993 das sogenannte Massaker von Sivas. Ein aufgebrachter Mob hatte ein Hotel in Brand gesteckt, in dem Intellektuelle logierten, die zu einer alevitischen Feier in die Stadt gekommen waren. 37 von ihnen starben.

vks/dpa

Quelle: DER SPIEGEL http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-ankara-diskriminiert-laut-egmr-urteil-die-aleviten-im-land-a-1089397.html

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg