Kurden demonstrieren in Köln für Unabhängigkeit

Kurden demonstrieren in Köln für Unabhängigkeit


Mit Stacheldraht getrennt aber in den Herzen vereint

Kurdinnen und Kurden erinnern in Köln an willkürliche Grenzziehungen in ihrer Heimat

Am Samstag kamen 10.000 Kurdinnen und Kurden sowie zahlreiche Freunde des kurdischen Volkes in Köln zusammen um gegen den 100. Jahrestag eines Abkommens zu demonstrieren, das auch 100 Jahre später als eine große historische Ungerechtigkeit empfunden wird.

Die beiden britischen und französischen Diplomaten Mark Sykes und Francois Picot unterzeichneten am 16. Mai 1916 ein Abkommen um ihre Einflussspähren im Nahen Osten zu koordinieren. Sie teilten den Nahen Osten untereinander auf und zogen willkürlich Grenzen, die die Völker des Nahen Ostens noch heute als nicht verheilte Narben empfinden. „Auch wenn Stacheldraht uns trennt, sind wir Kurden im Herzen vereint“, so die Position der Kurdischen Gemeinde Deutschland.

Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland erinnerte in seiner Rede auf der Kundgebung daran, dass diese Grenzziehung und die sich daraus ergebenden künstlichen Staatsbildungen das kurdische Volk völlig unberücksichtigt ließ. Somit sind 50 Millionen Kurdinnen und Kurden noch immer das größte Volk ohne einen eigenen Staat.

Die Konflikte und Instabilität des Nahen Ostens sind die direkten Folgen dieses Abkommens, der Ausdruck europäischen Imperialismus ist und die betroffenen Völker der Region ins Unglück gestürzt habe.

Tanriverdi wies ausdrücklich darauf hin, dass das kurdische Volk sich der europäischen Grenzziehung und künstlichen Staatenbildung nicht verbunden fühle und auf das Selbstbestimmungsrecht auch für das kurdische Volk gelten müsse. Er sieht angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Region den Unabhängigkeitsprozess des kurdischen Volkes als unaufhaltsam an. Bereits jetzt würden die Kurdinnen und Kurden dort, wo sie das Selbstbestimmungsrecht in die eigene Hände nehmen, wie in Südkurdistan (Irak) und Rojava (Syrien), stabile und demokratische Strukturen aufbauen, die vor allem auch verfolgten Minderheiten Schutz und Freiheit garantieren.

Ein unabhängiges Kurdistan wird dem Nahen Osten eine dauerhafte Stabilität und zehntausenden Flüchtlingen eine Rückkehrperspektive geben so Mehmet Tanriverdi zum Abschluss seiner Rede. Gerade dieser Hinweis wurde von tausenden Kundgebungsteilnehmern mit „Biji Kurdistan“ Es lebe Kurdistan- Sprechchören quittiert.

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Grußwort der KGD zur Kundgebung 14.Mai in Köln:
100. Jahrestag Sykes-Picot

Mehmet Tanriverdi,
Stellv. Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Landsleute!

Am 16. Mai 1916 – also vor genau 100 Jahren- wurde durch eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs eine Grenzziehung festgelegt, die für die Menschen des Nahen Osten, einschneidende Folgen hatte, besonders für das kurdische Volk. Grenzen wurden gezogen ohne auf kulturelle, sprachliche und ethnische Eigenheiten der betroffenen Völker Rücksicht zu nehmen.Dies hatte vor allem für das kurdische Volk fatale Folgen. Ein 50 Millionen Volk, dessen Heimat seit mehr als einhundert Jahren besetzt ist, gilt auch heute noch, im 21. Jahrhundert, als staatenlos.

Mehmet Tanriverdi, stellv. Bundesvorsitzenden der Kurdischen Gemeinde Deutschland

Mehmet Tanriverdi
Stellv. Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland

Ich betone hier ganz deutlich: die Aufteilung Kurdistans erfolgte gegen den Willen der kurdischen Bevölkerung. Die von den damaligen Großmächten initiierten Staatsgründungen im Nahen Osten, namentlich Irak und Syrien,und die damit einhergehenden willkürlichen Grenzziehungen haben wir Kurden nicht zu verantworten. Dies sage ich hier in aller Deutlichkeit. Daher fordere ich auch die Weltgemeinschaft auf, von den Kurden nicht zu erwarten, diese Grenzen zu achten. Das kurdische Volk hat in diesen Grenzen, innerhalb der letzten hundert Jahre, weder in Frieden noch in Sicherheit gelebt. Vielmehr wurden die Kurden über einhundert Jahre unterdrückt! Über einhundert Jahre verfolgt! Sie waren über einhundert Jahre etlichen Völkermorden ausgesetzt. Angefangen mit Dersim mit 80.000 Toten, über die Anfal-Kampagne mit über 185.000 Toten, bis hin zum letzten Völkermord an den jesidischen Kurden durch den skrupellosen IS und seine Hintermänner.

Die damaligen Grenzziehungen führten dazu, dass wir unserer Wurzeln beraubt wurden. Bedenken wir bitte: Wir durften, wie beispielsweise vor kurzem noch in Nordkurdistan, unsere Muttersprache nicht sprechen! Wir durften, wie bis heute im Osten Kurdistans, unsere Kinder nicht in kurdische Schulen schicken. Wir duften unsere Wünsche und Hoffnungen weder politisch ausdrücken, wie im Süden Kurdistans, noch durften wir unsere kurdischen Symbole in irgendeiner Art und Weise zeigen, wie im Westen Kurdistans.

Blicken wir zurück und halten uns vor Augen, dass wir Kurden vor 100 Jahren nicht darauf vorbereitet waren uns gegen diese Behandlung zu wehren, denn unser Volk war schwach und chancenlos, sowohl auf diplomatischer Ebene als auch auf militärischer. Wer hätte damals gedacht, dass eines der zahlenmäßig größten Völker der Welt einmal staatenlos sein würde? ohne Staat, ohne freiheitliche Rechte und gegen den eigenen Willen geteilt!

In den Augen der Besatzermächte haben die Kurden nicht existiert. Unsere schiere Existenz wurde bis vor wenigen Jahren noch geleugnet. Auch heute noch müssen wir um unsere Anerkennung, um unsere Rechte und um unser Leben kämpfen.

Doch heute haben wir eine starke Stimme! Heute können wir Hand in Hand voranschreiten und in unserem gelobten Land eine sichere Heimat für alle Kurden schaffen. Heute müssen wir unbedingt diese – gegen unseren Willen festgelegten – Grenzen mithilfe der Weltgemeinschaft neu definieren. Dieseshundert Jahre alte Abkommen, das nur noch auf dem Papier besteht, verhindert nicht nur unsere Eigenständigkeit, es verhindert auch ein sicheres, freies und lebenswertes Dasein für unser Volk.

Es länger hinzunehmen wäre nicht nur falsch, es wäre ein Verbrechen gegen jede Vernunft, ein Verbrechen gegen eine Jahrtausende alte Zivilisation, ein Verbrechen gegen die so hoch gelobte Menschlichkeit!All die Unterdrückung, die durchgehende Verleumdung, all die Vernichtungsfeldzüge und Massaker an unserem Volk, all das muss ein Ende finden!

Das Selbstbestimmungsrecht gilt für alle Völker! So muss es auch für das kurdische Volk gelten. Heute sind wir nicht mehr naiv wie vor 100 Jahren! Heute haben wir eine starke Stimme! Eine starke Stimme auf allen Ebenen. Sowohl in politischer und diplomatischer, als auch in wirtschaftlicher Sicht. Heute haben wir die Fähigkeit unser Land selbst zu verwalten. Wir haben die Fähigkeit unser Land aufzubauen, es zu einem freiheitlichen, selbstständigen Staat, zu entwickeln, der gleichberechtigt neben anderen freien Nationen der Welt seinen Platz hat. Die Existenz der Autonomen Region Kurdistan ist das Paradebeispiel für die weltpolitischen Fähigkeiten des kurdischen Volkes.

Als Kurdistan geteilt wurde, hatten wir weder Fürsprecher noch die eigene Kraft, um gegen diese Teilung anzugehen. Doch heute ist es anders. Seit 2003 hat sich die Autonome Region Kurdistan, im Norden des Kunststaates Irak, hervorragend entwickelt. Im Kampf gegen den IS sind die Kurden sowohl im Süden aber auch im WestenKurdistans gern gesehene Verbündete des Westens. Wir haben uns als verlässliche Partner bewährt. Wir halten Wort. In Südkurdistan aber auch in den von Syrien besetzen Gebieten im Westen Kurdistans, in Rojawa, haben Kurden bewiesen, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern für ethnische und religiöse Minderheiten eintreten und ihnen ihre Rechte garantieren.

Heute ist das kurdische Volk neben dem Iran, der Türkei und Saudi-Arabien zu einem der wichtigsten Akteure im Nahen Osten aufgestiegen. Die Autonome Region Kurdistan, im Süden der kurdischen Heimat,hat den Weg zur Unabhängigkeit eingeschlagen. Auch im WestenKurdistans ist man, trotz aller Fehler und Widersprüche der letzten Jahre dabei, weiter voranzuschreiten.

Die Kurden, verehrte Damen und Herren, sind auf dem Weg einen offiziellen Status neben den anderen Nationen der Welt zu erlangen. Ein Status der Eigenständigkeit und der Unabhängigkeit. Ein Status als geschätzter Partner in politischen, wirtschaftlichen, militärischen und vor allem in menschlichen Angelegenheiten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Regierung in Hewlêr, zu Deutsch Erbil, über zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Sieben Millionen Kurden im Norden des Staates Irak haben gezeigt, dass sie als verlässliche Partner der Weltgemeinschaft für Menschenrechte und für die Werte der Zivilisation eintreten. Das muss honoriert werden!

Und auch im Osten der kurdischen Heimat, dem vom Iran besetzenTeil Kurdistans, führt das kurdische Volk den Kampf für nationaleAnerkennungund demokratische Rechte. Es führt einen Kampf für die Freiheit und gegen das repressive Mullah-Regime!

Es bestürzt uns, wenn wir die Bilder aus dem Norden, Süden und Westen Kurdistans sehen. Es bestürzt uns zu sehen, dass hunderttausende Menschen zu Opfern sinnloser Kriege werden. Es bestürzt uns, dass so viele Menschen auf der Flucht sind und dass so viele Städte und Kulturgüter zerstört werden. Das alles muss ein Ende finden!

Wir stehen im Süden Kurdistansvor einem wichtigen Schritt, wir stehen davor, der kurdischen Geschichte eine entscheidendeWendung zu geben. Wir begrüßen ausdrücklich das angestrebte Referendum zur Unabhängigkeit – das Vorhaben der Regierung und der kurdischen Parteien, eine Volksbefragung über die Unabhängigkeit durchzuführen ist ein legitimes Recht, welches jedem Volk dieser Welt zustehen sollte.

Und das Ergebnis können wir heute schon vorhersagen: die Menschen wollen die Unabhängigkeit Kurdistans!

Ein Staat mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit und militärischer Stärke. Ein freiheitlicher, demokratischer Staat, welcher allen Minderheiten Schutz garantiert und diese auch tatsächlich am Aufbau des Staates beteiligt. Nur so kann ein Zukunftsmodell für einen kurdischen Staat aussehen. Und ich gebe zu bedenken: Dies kann und wird dann sicher auch auf die Nachbarländer Auswirkungen haben und zur Öffnung dieser führen. Es wird der Region und der Welt guttun, neben Israel ein zweites, demokratisches Land im Nahen Osten zu wissen. Der irakische Staat existiert nur noch auf dem Papier. Einem einhundert Jahre alten Stück Papier, das uns, meine Damen und Herren, die Fesseln der Abhängigkeit und Unterdrückung angelegt hatte.

Wir Kurden können das schaffen! Wirtschaftlich haben wir dazu die nötigen Voraussetzungen und im Vergleich zu vielen anderen Gesellschaften in islamisch geprägten Ländern sind wir ein liberales Volk, welches dieGrausamkeiten der Unterdrückung zur Genüge kennt! Wir wollen die vollkommene Freiheit, wir wollen die vollkommene Unabhängigkeit!

Aber machen wir uns nichts vor: Wir brauchen dazu auch die Signale der Weltgemeinschaft, Signale von Verbündeten, die uns Mut machen, weiter für die Freiheit einzutreten. Wir brauchen Signale die uns Unterstützung beim Wiederaufbau unseres Landes zusagen. Und es ist eben auch an diesen Verbündeten, dann im Oktober, nach dem Referendum, Kurdistan anzuerkennen. Eine Anerkennung des unabhängigen kurdischen Staates, mit dem man auf allen Ebenen eine Zusammenarbeitet anstrebt. Auf allen Ebenen. Sowohl wirtschaftlich, als auch politisch und militärisch.

Ein unabhängiges Kurdistan würde Millionen von Menschen Sicherheit vor Verfolgung bieten, es würde Millionen von Menschen eine Heimat bieten, so dass dann auch Flüchtlinge, die heute in Europa leben, zurückkehren könnten um gemeinsam mit ihren Landsleuten ihre alte, wiedergewonnene, Heimat wiederaufzubauen.

Den Krieg gegen den IS hätten wir ohne militärische Unterstützung aus dem Westen, vor allem aus Deutschland, nicht schaffen können. Dafür sind wir dankbar.

Heute möchte ich hier einen deutlichen Appell an alle Kundinnen und Kurden richten: Die Kurden müssen – bei allen politischen Differenzen und Streitigkeiten – in der Frage und Forderung nach einem anerkannten, eigenen Staat an einem Strang ziehen. Dazu fordere ich alle politischen Parteien von hier aus auf: Legt eure Differenzen und Meinungsverschiedenheiten bei Seite, geht Kompromisse ein, so werdet ihr schneller euer Ziel erreichen. Und wenn die Parteien es nicht schaffen, so muss das kurdische Volk sie dabei unterstützen und sie dazu drängen eine Einheit in der Frage der Unabhängigkeit zu werden.

Heute, 100 Jahre nach Sykes-Picot, können die Kurden ihre Geschichte endlich selbst schreiben. Wir dürfen diese historische Chance nicht verpassen.

Heute – an diesem historischen Tag – ist es an uns Kurden, hier und in der gesamten Welt symbolisch darauf hinzuweisen und den wichtigen Schritt in die Zukunft gemeinsam zu gehen.

Lassen Sie uns nicht weitere 100 Jahre warten. Treten wir ein für ein unabhängiges, freies, demokratisches und freiheitliches Kurdistan! Dafür stehe ich heute hier und appelliere im Namen der Kurdischen Gemeinde Deutschlands!

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