Offener Brief an die Koalitionsparteien

Es sind bewegte Wochen für die Bundespolitik, die Koalitionsverhandlungen laufen und die verhandelnden Parteien stellen wichtige politische Weichen für die gesellschaftliche Zukunft unseres Landes.

Die Kurdische Gemeinde Deutschland nimmt regen Anteil an den Entwicklungen und der Aufbruchsstimmung, die überall spürbar ist.

Zugleich möchten wir die Gelegenheit nutzen, die Koalitionsparteien auf vier zentrale Punkte hinzuweisen, die unserer Ansicht nach in einem Koalitionsvertrag dringend berücksichtigt werden müssen.

Wir erlauben uns, sie hier kurz zu skizzieren:

1. Entschlossene Bekämpfung von Rassismus – egal von welcher Seite er kommt

Wir erwarten von der neuen Bundesregierung die beherzte Umsetzung des Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus sowie weiterer Präventions- und Sanktionsmaßnahmen.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit muss in all ihren Formen und Stadien geächtet und sanktioniert werden – ganz unabhängig von der Herkunft. Hier darf es keine blinden Flecken geben: wir denken da etwa an den nachsichtigen Umgang der Bundesregierung mit zutiefst rassistischen Vereinigungen wie den Grauen Wölfen oder mit Vereinigungen, die dem politischen Islam zuzurechnen sind. Wir fordern mehr gesamtgesellschaftliche Umsicht und Schutz für alle Opfer rechter Gewalt, ganz gleich, woher sie kommen.

2. Vielfalt abbilden – Teilhabe ermöglichen

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich in allen Institutionen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen, in Behörden, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft noch stärker widerspiegeln.

Damit eine gleichberechtigte Teilhabe aller ermöglicht werden kann, unterstützen wir die Forderung nach einem Integrationsministerium sowie weiterer politischer und zivilgesellschaftlicher Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Als zwingend notwendig erachten wir es, dass demokratische MSOs in die Prozesse der nachhaltigen interkulturellen Öffnung der Gesellschaft, ihrer Organisationen und Institutionen eingebunden werden.

3. Fluchtursachen bekämpfen – europäische Lösungen finden

Das gerade stattfindende humanitäre Drama an der Ostgrenze der EU hat uns wieder vor Augen geführt, dass Geflüchtete, darunter auch viele Kurd:innen, viel zu oft für zynisch kalkulierte Interessen instrumentalisiert werden. Das Ausscheren aus der europäischen Wertegemeinschaft, wie etwa Polen oder Litauen es aktuell praktizieren, darf nicht geduldet werden. An erster Stelle müssen der humanitäre Schutz und eine menschenwürdige Einwanderungspolitik stehen.

Dazu gehört auch eine langfristige Bekämpfung von Fluchtursachen, die sich ebenso wie eine humane und gerechte Einwanderungspolitik, in der jedes Land seinen Anteil trägt, nur in europäischer Zusammenarbeit realisieren lässt.

Wir wünschen uns Konzepte, um die Herkunftsregionen der Kurdinnen und Kurden durch eine deutsche und europäische Außenpolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert, dauerhaft und demokratisch zu stärken.

4. Kurswechsel der deutschen Türkei-Politik

Es ist kein Geheimnis, dass sich gerade die Deutsch-Kurd:innen einen Kurswechsel in der deutschen Türkei-Politik wünschen: Seit Jahren werden immer wieder deutsche Staatsbürger:innen, darunter auch viele Kurdischstämmige, in der Türkei festgesetzt und wie Geiseln in einem politischen Ränkespiel gehandelt. Kritiker:innen des türkischen Regimes müssen jedoch nicht nur bei einer Reise in die Türkei, sondern sogar hierzulande mit Bedrohung und Anfeindung durch türkische Nationalist:innen rechnen.

Dies sind Zustände, die wir für nicht länger hinnehmbar erachten. Die Bundesregierung muss aus den fortlaufenden willkürlichen Verhaftungen und der Bedrohungslage hierzulande endlich deutliche politische Konsequenzen für den Umgang mit der Türkei ziehen.

Unabhängig davon, wie die Koalitionsverhandlungen im Detail ausgehen, bewerten wir die Stärkung des fachlichen Austauschs zwischen demokratisch gesinnten Migrantenselbstorganisationen und der Bundespolitik als zentralen Baustein für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander. In diesem Sinne freuen wir uns auf den konstruktiven und offenen Austausch mit der kommenden Bundesregierung.